Die GPP e.V. lädt ein zum
Philosophisch-literarischen Neujahrs-Wochenende
in Kronenburg (Eifel)
Im "Romantischen Eifelhotel Villa Kronenburg"
Von Freitag, dem 4., bis Sonntag, den 6. Januar 2013
Goethe, „Die Wahlverwandtschaften”
Philosophie als Roman
Um nicht selber überschwänglich werden zu müssen bei der Ankündigung dieses Romans, der mir seit langem schon der bedeutendste und darum liebste der Weltliteratur ist, lasse ich schlicht Thomas Mann für mich einspringen:
„‚Die Wahlverwandtschaften’ (1809) sind der kühnste und tiefste Ehebruchsroman, den die moralische Kultur des Abendlandes hervorgebracht hat. Sie sind nach Sprache, Geist, Haltung, Gesinnung ein deutsches Werk höchster Gesittung; und es ist wunderbar, wie gesellschaftliche und religiöse Gegen-Natur - die nicht Wider-Natur, sondern eben nur ‚sittliche Kultur’ ist - sich hier finden, vereinigen, und wie Gesittung zur Sittlichkeit wird. Es ist ein Werk von zarter und unerbittlicher Kenntnis des Menschenherzens, so ausgeglichen in Güte und Strenge, Klarheit und Geheimnis, Klugheit und Ergriffenheit, Form und Gefühl, daß wir es nur mit Staunen das unsere nennen. Aber da es denn wirklich unser ist, wollen wir es uns ... wieder aufstellen als leuchtendes Zeichen der Möglichkeit deutscher Vollendung.”
An anderer Stelle entschied Thomas Mann über diesen Roman Goethes, er sei „ein Wunderding an Geglücktheit und Reinheit der Komposition, an Reichtum der Beziehungen, Verknüpftheit, Geschlossenheit”. Was gäbe es da zu ergänzen?
Vielleicht einen Kommentar des Dichters Joseph von Eichendorff:
Goethes „unmittelbar aus der Gegenwart gegriffenen Romane: Werther, Wilhelm Meister und die Wahlverwandtschaften, sind ein fortlaufendes Epos der Bildung des Jahrhunderts, ihrer Leiden und Freuden, ihrer Irrtümer und Laster. Was seinen Helden fehlt, fehlt seiner Zeit, und kann nicht dem Dichter, sondern uns zum Vorwurf gereichen; und jedenfalls wird man aus jenem historischen Romanzyklus für alle Zukunft diese Zeit besser als aus den Geschichtsbüchern studieren und verstehen können.”
Nur eines ist noch hinzuzusetzen: Was Goethe als das Empfinden, Denken, Urteilen, kurz als das Leben seiner Zeitgenossen wahrnahm, ist in all seiner Konfusion, Haltlosigkeit und Ausgesetztheit noch immer das unsere. Und so begegnen wir uns selbst, sofern wir diesen Roman in geeigneter Weise zu entziffern vermögen. Dann gilt: In abgründig unterhaltsamer Weise werden wir über uns selbst aufgeklärt.
Das nenne ich: den Roman philosophisch lesen.
Nicht zuletzt enthält der Roman durch „Ottiliens Tagebuch” und die ihm anvertrauten „Maximen und Reflexionen”, sonst auch Aphorismen genannt, einen philosophischen Kern, der uns beschäftigen wird.
Ich zitiere hier einige Beispiele:
Durch nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Charakter als durch das, was sie lächerlich finden.
Man kann der Gesellschaft alles aufdringen, nur nicht, was eine Folge hat.
Es gibt kein äußeres Zeichen der Höflichkeit, das nicht einen tiefen sittlichen Grund hätte.
Die rechte Erziehung wäre, welche dieses Zeichen und den Grund zugleich überlieferte.
Freiwillige Abhängigkeit ist der schönste Zustand, und wie wäre der möglich ohne Liebe.
Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.
Gegen große Vorzüge eines andern gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe.
... das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch.
Alles Vollkommene in seiner Art muß über seine Art hinausgehen, es muß etwas anderes, Unvergleichbares werden.
In eben diesem Sinne sind Goethes „Wahlverwandtschaften” ein vollkommener Roman.
Auszug aus meinem Vortrag „Was bedeutet: Literatur ›philosophisch‹ lesen?”, gehalten an der Lessing-Hochschule Berlin im Rahmen meiner 2003 gehaltenen Vorlesungsreihe über Goethes „Wahlverwandtschaften”:
Wer „Die Wahlverwandtschaften” philosophisch zu lesen versteht, erfährt etwas davon, wie Menschen von der Liebe wie von einem Schicksal erfaßt werden, das sie aus allen sonst gepflegten Routinen des Lebens herausreißt; wie sie in solchen Lebenslagen dazu neigen, alles, was ihnen gewöhnlich für Recht und Anstand oder sogar für heilig gilt, zu mißachten als wäre es nichts; wie Menschen, die sich für aufgeklärt und nüchtern halten, in den Bann diffuser Mächte und undurchschauter Gewalten geraten; wie sie im Bemühen, sich miteinander zu verständigen, die schlimmsten Mißverständnisse anrichten, die ihnen später als fürchterliche Folgen auf den Hals fallen, und warum das so ist; und schließlich gehen ihm Einsichten auf, die ihm verschlossen geblieben wären, hätte er sich nicht mit äußerster Aufmerksamkeit auf Details in dieses Buch hineinführen lassen. Ein einziges Detail ‒ aus endlicher Fülle herausgegriffen ‒ will ich nennen und, wenn auch in Umrissen nur, als Beispiel skizzieren: die Vorstellung des Hauptmanns und der Ottilie ...
In dieser Ehe- oder auch Treuebruch-Geschichte, die der Roman zum Anlaß seiner Schilderung des Menschlich-allzu-Menschlichen nimmt, müssen zur Vervollständigung des Liebesquartetts, damit sich die Leidenschaften über Kreuz verknüpfen lassen, ein gestandener Mann und ein junges Mädchen das Ehepaar ergänzen: der Hauptmann und Ottilie. Wie werden nun diese beiden in das Geflecht des Romans eingewoben, wie wird der Mann, wie das Weib eingeführt? Der Hauptmann wird uns vorgestellt, indem wir erfahren, was seine Denkungsart und Lebenshaltung sind, was seine Grundsätze und Neigungen, vor allem aber, was er sogleich als Anforderung an seine künftigen Tätigkeiten auffaßt. Goethe macht uns mit ihm bekannt, indem wir erfahren, was dieser Mann sieht, wie er die Umstände und andere Menschen einschätzt und wie er sich zu ihnen stellt. Und das junge Mädchen, das im Gegenzug von Charlotte in den gemeinsamen Haushalt aufgenommen wird, Ottilie? Nicht was sie schätzt, sondern wie sie geschätzt wird ist hier die Nachricht, mit der sie vorgestellt wird. So wird sie von Goethe eingeführt, indem er uns zunächst erfahren läßt, was von anderen und dritten über sie mitgeteilt wird ‒ von der Pensionsvorsteherin und ihrem Gehilfen ‒, wie also sie dies Mädchen sehen. Von Ottilie wird berichtet, bevor sie erscheint. So erfahren wir, wie sie auf andere wirkt, was sie für andere ist. Ehe wir sie sehen, hören wir, wie sie von anderen gesehen wird. Die erste Wirklichkeit des jungen Mädchens ist nicht ihr Wirken, vielmehr ihre Wirkung, nicht was sie sieht, sondern ihr Gesehen-werden. Wie für den Mann dessen Urteil zeugt, so zeugt für das junge Weib, wie es beurteilt wird.
Was bedeutet: Lieratur 'philosophisch' lesen?
Diesen Vortrag kann, wer mag, zur Einstimmung gewissermaßen hier [1] nachlesen.