„Der Arbeitgeber-ESSAY”
Gerd B. Achenbach
Wirtschaft und Ethik - zur Aufklärung eines Irrtums
Zuerst die naheliegenden Dinge - danach einige Hintergründe, Widersprüche und Paradoxien, die unbemerkt blieben - dann das Wichtige und Wesentliche, also der Versuch, das Verhältnis Wirtschaft und Ethik zurechtzurücken - zum Schluß eine Empfehlung. Das ist der Aufbau der folgenden Überlegungen.
Konjunktur ethischer Interessen
Über Ethik wird derzeit viel geredet. Auch über ethische Fragen der Wirtschaft. Die Nötigung zur ethischen Reflexion wird allerdings recht unterschiedlich begründet. Die erste Begründung besagt, ethisch zu denken sei fortschrittlich; die zweite, der Fortschritt sei nur ethisch zu retten; die dritte, nur ein ethisches Bewußtsein rette uns aus dem Fortschritt in den Abgrund.
Ethik als fortschrittlicher Trend
Im Sinne der ersten Erklärung wird beispielsweise festgestellt, Ethik sei das Thema der neunziger Jahre; lapidar: „Ethik ist 'in'.” Das Argument, sich an diesem Trend zu beteiligen, heißt: Wer auf der Höhe seiner Zeit bleiben wolle - was als Erfolgsbedingung gilt und neuerdings sogar mit einem geflügelten Wort des großen Vorsitzenden Gorbatschow bekräftigt werden kann -, der müsse mitmachen. Ergo: Alle reden von Ethik. Wir auch.
Zwar soll man die Macht solcher Suggestionen nicht unterschätzen - sie motivieren wirksam -, andererseits sind sie doch nur modischer Klamauk. Gerade ist das Thema durchgesetzt, die Akademien tagen, die Kongresse haben ihr Thema, die Managerseminare laufen, da äußert sich bereits der Nestle-Chef Maucher, er habe diese ewigen Ethik-Diskurse nun satt. Den Betrieben und ihren Mitarbeitern bekomme das nicht. Er brauche Leute mit „Kampfwillen” und „Killerinstinkten”. Und Mark Siemons kommentiert in der FAZ: „Die Jahre der Ethik sind offenbar gezählt.”
Man sieht: Heute geht alles schnell. Vor allem zu schnell . . . Als Kurzkommentar dazu ein Wort wie ein Blitzlicht: „Alles gackert, aber wer will noch still auf dem Neste sitzen und Eier brüten?” (Nietzsche)
Ethik als Rettung des Fortschritts
Das zweite Argument zur Begründung der Aktualität ethischer Fragen verdankt sich der Einsicht: Je mehr der Mensch vermag, desto größer die Gefahren, die sich aus seinem Tun ergeben können. Oder: Der Fortschritt ist gut, zugleich aber gefährlich.
Und soviel ist wahr: Hochwirksame Medikamente haben ggf. weitreichende Nebenwirkungen, ein auf zweihundert Stundenkilometer beschleunigtes Vehikel kann bedeutsameren Schaden verursachen als das Fahrrad mit 25 km/h, und während sich gewiß auch am Kohlefeuer ein Kind verbrennen kann, gilt: brennt Tschernobyl, verbrennen viele.
Der Wirtschaft werden entsprechend die namhaften Unfälle, Katastrophen und Skandale in Erinnerung gerufen, und es wird gefordert, Risiken zu vermeiden, gefährliche Stoffe durch ungefährliche zu ersetzen, vor verbleibenden Gefahren verantwortungsvoll zu warnen und die Bürger umfassend aufzuklären.
Als ethisches Bewußtsein gilt die Einsicht: Je folgenreicher unser Tun, desto verantwortungsvoller müssen wir handeln. Die leitende Idee ist: Der Fortschritt ist nur zu sichern, sofern das ethisch-moralische Bewußtsein Schritt hält.
Ethik als Rettung aus dem Fortschritt
Der dritte Ruf nach Ethik ist weniger Argument als der Ausdruck einer Befindlichkeit: Den Menschen wird auf unbestimmte Weise angst und bange. Oder sie wissen nicht, wo ihnen der Kopf steht. So oder so: beides erhöht die Angriffslust, und die äußert sich gegenwärtig „moralisch”.
Faktum ist, daß Firmen und ganze Industrien zunehmend ethisch-moralisch motivierter Kritik ausgesetzt sind.
In der „Wehrtechnik” (wie vorsichtshalber formuliert wird) ist es schwer geworden, leitende Positionen zu besetzen; die Chemieindustrie steht als Umweltsünderin am Pranger; die Automobilindustrie desgleichen; die Energieunternehmen werden beargwöhnt, seit Atomkraft als Primärrisiko gilt und Ozonloch plus Klimakatastrophe Diskussionsschwerpunkte bilden; die Pharmakonzerne vergehen sich an den Tieren; die Kosmetikhersteller ebenso; andere Unternehmen - auch Banken -werden von Kirchentagsteilnehmern der Kooperation mit dem südafrikanischen Unrechtssystem bezichtigt; die Pelz und Leder verarbeitende Industrie hat das Aussterben seltener Arten auf dem Gewissen (von dem zugleich angenommen wird, es sei unterentwickelt, sofern es um Geschäfte gehe); Lacroix hatte unverantwortlicherweise kleingeschnittenes Schildkrötenfleisch in seinen Dosen; der Hochbau ist der unmenschlichen Verwüstung unserer Städte durch gigantische Siedlungen überführt; der Tiefbau versiegelt Mutter Erde, zerstört Biotope und verschandelt die Landschaft mit Beton; die Möbelindustrie ist mitverantwortlich für das Abholzen der Regenwälder, die Papierindustrie soundso; die Verpackungsindustrie avanciert zum radikalen Bösen; und was die Produzenten von Marlboro und Peter Stuyvesant angeht, so machen sie ihre Profite auf Kosten der Gesundheit. Die Frage ist, was nun - die Produktion von Birkenstockschuhen und der Vertrieb von Lebensmitteln aus garantiert biologischem Anbau in Dritte-Welt-Ländern einmal abgerechnet -überhaupt noch reinen Gewissens unternommen werden kann.
Zusammenfassend, und zugleich als warnender Hinweis ausgegeben, läßt sich sagen, daß in naher Zukunft eigentlich kein Unternehmen davor sicher sein kann, Zielscheibe moralischer Kritik zu werden und ins Kreuzfeuer gezielter Kampagnen zu geraten, denen das Los der Menschheit am Herzen liegt. Denn so, wie alles „politisierbar” ist, so ist prinzipiell auch alles „moralisierbar”. Außerdem: Moral, einmal im Schwung, ist schwer zu bremsen. Sie ist ad libitum zu radikalisieren ... Was Sorgen rechtfertigt.
Zum Versuch, die moralische Kritik moralisch zu beantworten
Wie wird auf diese dreifache Konjunktur ethischer Interessen geantwortet? Der erste Fall ist einfach. Ist ethisches Nachdenken die neue Üblichkeit, beteiligt man sich daran, oder man weicht markant ab und geht Sonderwege. Das eine ist so unbedenklich wie das andere: es geht nur um Mode. Im zweiten Fall lautet die Empfehlung, an die sich die Wirtschaft im großen und ganzen auch hält, etwa so: Da der „kritische Verbraucher” moralische Gesichtspunkte in seine Kaufentscheidungen aufnehme, habe das Unternehmen diesem neuen Bewußtsein zu entsprechen.
So zu reagieren ist ratsam, da moralischen Einwänden nur mit moralischen Erwägungen zu begegnen ist; genauer: durch die Bereitschaft, sich ethisch einwandfrei, wenn nicht vorbildlich zu verhalten. Schwierig hingegen ist die Angelegenheit im dritten Fall, dort, wo nach Ethik wie nach einer Notbremse gerufen wird, weil man meint, der Welt schlage jeden Moment die letzte Stunde.
Die Stimmung, die sich da meldet, hat Mathias Greffrath (DIE ZEIT) bündig in folgender Formel zusammengefaßt: „Moral soll uns retten, Moral den Zug des Fortschritts bremsen, kurz bevor er an die Mauer knallt.” Ich behaupte: Diese Herausforderung ist nicht moralisch zu beantworten, denn die „Kritik”, die da laut wird, scheint nur „moralisch”, ist es aber nicht. Vielmehr gilt: Dort, wo am lautesten nach Ethik und Moral gerufen wird, geht es gerade nicht um Moral, und ein sittlich-ethisches Bewußtsein ist deshalb auch keine angemessene Antwort. Und PR-Maßnahmen und Verpackungsaufdrucke beruhigen die Erregung schon gar nicht.
Spätestens dieses radikale, mittlerweile aber verbreitete Bewußtsein, das sich selbst als „Stimme des Gewissens” verkennt und verläßlich am auftrumpfenden Ton zu erkennen ist, fordert vielmehr die Frage heraus, womit wir es hier eigentlich zu tun haben. Oder: Was heißt hier eigentlich „Moral”?
Was Moral war, und was aus Moral wurde
In aller bisherigen Tradition und Philosophie war Moral das Wort, mit dem das Tun und Lassen der Menschen beschrieben und beurteilt werden konnte. Das bedeutet: Moralisch - oder unmoralisch - ist niemand als der Mensch. Indem er sich moralisch besinnt, unterwirft er seine Handlungen und Haltungen einer kritischen Reflexion. Handelt er moralisch, lebt er sittlich, und befragt er sein Gewissen, ist er gut, andernfalls ist er böse oder roh, „unmenschlich”, schlecht. - So wars.
Aber das hat sich gründlich geändert, und ich hätte Grund, im folgenden „Moral” und „Ethik” durchwegs in Anführungszeichen zu setzen. Statt dessen aber werde ich - hoffentlich deutlich genug - von der „neuen Moral” sprechen. Sie ist durch dreierlei gekennzeichnet: Durch die Verschiebung des Interesses vom Menschen auf die „Verhältnisse”. durch das Eingespanntsein in Zwecke. was sie zum Mittel macht, und schließlich durch ein Absinken in Bedeutungslosigkeit.
Erstens: Früher war der Mensch moralisch, heute sind es die Verhältnisse
Die gründlichste Mutation der Moral, dem das gegenwärtig „moralisierende” Bewußtsein seine Schlagkraft verdankt, ist die Umbesetzung des „moralischen Subjekts”.
Kurzgefaßt: Früher war der Mensch moralisch, heute sind es die Verhältnisse.
Was bedeutet das? Sofern moralisch relevante Fragen aufgeworfen werden, gelten sie zunehmend den Verhältnissen im großen. Thema ist also die System-Verfassung. Hingegen ist es unüblich geworden, die erworbene Verfassung eines Menschen ethisch zu beurteilen, seine Haltung oder sein Bewußtsein von sich selbst moralisch einzuschätzen. Der einzelne hat sich das Recht erworben, von moralischer Kritik verschont zu bleiben - alles, was ihn selbst betrifft, ist seine Sache -, und zugleich ist er berechtigt, ja erwartet man von ihm als Ausweis seines Engagements, daß er als verantwortlicher Bürger moralische Erwartungen als Forderungen vorträgt.
Moral wird damit eine Angelegenheit der öffentlichen Diskussionen: „unten” der Bürgerinitiativen, der Basisgruppen und Journalisten, „oben” ist sie die Sache kompetenter Kommissionen, zuständiger Einrichtungen und primär der Politik, also der Gesetze und Verordnungen.
Anders ausgedrückt: Die moderne Welt erlaubt uns mehr und mehr, uns von den Fragen der Moral arbeitsteilig zu entlasten. Die Privatwelt wird moralisch unbelangbar - an die Stelle treten vorzugsweise psychologische Interessen und Erklärungen -, die öffentliche Welt hingegen wird einer strengen ethischen Kontrolle unterworfen.
Zusammenfassend kann man sagen: Der einzelne wird Sprecher der Moral, die Großsubjekte (die Gesellschaft, die Parteien, die Konzerne, „die Multis” usw.) sind hingegen ihre Täter; angesichts „moralisch unhaltbarer Zustände” ihre Untäter. Voltaire: „Ils sont juges et les autres sont jugés.” Oder, wie Odo Marquards Formel lautet: Wer gescheit genug ist, erspart sich die Nötigung, ein Gewissen zu haben, indem er zum Gewissen für die anderen wird.
Jene gründliche und folgenreiche Änderung des Denkens und Empfindens geht einher mit einer ebenso weitreichenden Veränderung der objektiven Verhältnisse. Sie ließe sich beispielsweise als Geschichte „Vom Almosen-geben zur Sozialfürsorge” erzählen. Etwa so: Erwartete man früher von dem Reichen, daß er den Armen half, ist diese Tugend jetzt an den Sozialstaat delegiert. Und vom Bürokraten im Sozialamt erwartet niemand mehr, daß er ein „guter Mensch” ist. Um seine Amtsgeschäfte zu erledigen, muß er nicht moralisch sein, sondern es genügt, wenn er korrekt ist. Auch die „Samariter”-Dienste werden längst von eingetragenen Vereinen abgewickelt.
Mit diesem neuen Verständnis von „Moral” tendiert die moderne Welt dahin, die Verhältnisse so einzurichten, daß es in ihnen menschlich zugeht, unabhängig davon, wie die Menschen selber denken, eingestellt sind und empfinden. Beispiel: Wer das unrentable Unternehmen schließen will, hat einen überzeugenden Sozialplan vorzulegen; ob ihn das Schicksal seiner Arbeiter berührt, und ob er sich tatsächlich selbst verantwortlich für die Belange anderer empfindet oder nicht, ist unerheblich. Die Moral wird also öffentlich verwaltet, das Gute, das wir tun, ist uns verordnet, ob wir selber Geschichte ut sind, spielt im Grunde keine Rolle: Das ist kurz gefaßt das Resultat, zu dem es die Geschichte der Moral gebracht hat. Ist dieser Prozeß zu begrüßen? - Ja und Nein. Hier zunächst das Ja. Das Nein zum Schluß.
Exkurs: Vorzüge der „neuen Moral”
Der beschriebene Prozeß ist zu bejahen, denn ihm verdanken wir eine objektiv bessere Einrichtung der Welt.
Denn soviel ist wahr: Eine noch so entwickelte moralische Empfindsamkeit einzelner Privatpersonen erbrächte keinesfalls dieselbe Gesamtleistung, die sich als Sozialetat im Haushalt des Bundes, der Länder und der Gemeinden niederschlägt. Und selbst im außerordentlichen Einzelfall ist zweifelhaft, ob ein Geschäftsmann - selbst mit ausgezeichnetem moralischen Gewissen und dem grundsatzfesten Willen, eigene Interessen mit denen anderer auszugleichen - jene sozialen Leistungen gewährte, in deren Genuß seine Mitarbeiterjetzt aufgrund gesetzlicher Regelungen kommen.
Also spricht vieles dafür, Ansprüche, die ehemals als moralische Forderungen an den einzelnen Menschen adressiert wurden, auch weiterhin auf dem Wege politischer Diskurse in den Status eines mehrheitsfähigen Willens zu heben und sie dann per Gesetzgebungsverfahren in den Stand strafbewehrter Normen zu überführen.
Zweitens: Die Zwecke der „neuen Moral”
Die moralische Reflexion der Gegenwart, die vorzugsweise „die Verhältnisse” im Auge hat, wenn sie moralische Urteile fällt, interessiert sich für Moral als Mittel zu Zwecken. Im selben Augenblick wird Moral zu einem Effizienzproblem.
Ein Beispiel soll das erläutern. Moralische Sensibilitäten werden gegenwärtig vorzüglich im Zusammenhang mit Sorgen entwickelt, die der bedrohten Umwelt gelten.
Denkschema und entsprechende Argumentationsform sehen hierbei so aus: Zunächst wird ein Problem entdeckt, ein Schaden registriert, eine Bedrohung wahrgenommen. Im Anschluß daran stellt sich die Frage, wie das Problem beseitigt, der Schaden reguliert, die Bedrohung abgewehrt werden könne. Der Zweck steht also fest, nur das Mittel wird noch gesucht.
Entscheidend ist nun: „Moral” ist nur das eine denkbare Mittel zu dem Zweck, angestrebte Verhältnisse (etwa eine saubere Umwelt etc.) als Resultat zu erzielen. Das heißt, es drängt sich regelmäßig als Alternative die Frage auf, ob es ein geeignetes Mittel ist, an die Menschen zu appellieren und darauf zu vertrauen, daß sie aus Einsicht ihre Einstellungen und Handlungen in der gewünschten Weise ändern (Option „Moral”), oder ob die für erforderlich gehaltene Praxis zur staatlich erklärten Pflicht gemacht werden soll, unterstützt durch Androhung von Sanktionen im Falle des Zuwiderhandelns (Option „Gesetz”).
Diese Alternative aber, so gestellt, wird in allen dringenden Fällen den gesetzgeberischen Weg als den effizienteren erscheinen lassen. Mit anderen Worten: „Wenn es darauf ankommt”, wird Moral zurückgestellt zugunsten von Recht und Gesetz.
Drittens: Bedeutungsverlust der Moral
„Moral”, die nicht den Menschen, sondern die Verhältnisse verbessern soll, verliert ihre Bedeutung. Was jetzt als ihr ,.Sinn” gilt, erfüllt das strafbewehrte Gesetz effizienter.
Daß damit aber alle wichtigen und schwerwiegenden Probleme dem Geltungsbereich der Moral entzogen und dem der Jurisdiktion überantwortet werden, heißt zugleich, dem „moralischen Ermessen” der Menschen bleiben lediglich Entscheidungen minderen Gewichts überlassen.
Das Resultat: Fragen der Moral verlieren an Reiz und Bedeutung. Ihre Relevanz degeneriert auf die von Tischsitten. Die Folge: Das Ansehen der Moral insgesamt schwindet. Die weitere Folge schließlich: Das Ansehen des Menschen insgesamt schwindet.
Denn nur, wo Moral Gewicht hat, fällt der Mensch ins Gewicht. Und nur soweit der Mensch wichtig ist, ist es auch die Moral.
Indem das wirkliche Ziel der moralisierenden Kampagnen und Forderungen der angestrebte Zustand von Verhältnissen ist, nicht aber die moralische Verfassung von Personen, ergibt sich mithin der paradoxe Befund, daß von „Moral” zwar viel geredet wird, ihre Bedeutung in Wirklichkeit jedoch verblaßt.
Symptom dieses Prozesses ist, daß nahezu ausnahmslos nur noch diskutiert und wahrgenommen wird, was für den Menschen „gut” ist. Um Moral im traditionsverbürgten Sinne aber geht es dort, wo die Frage ist, ob der Mensch selber gut ist.
Moral ist das Wort, das die Qualität eines Menschen ausspricht; und das ist etwas anderes als seine Intelligenz, seine Leistungsfähigkeit, seine Bildung, seine Gesinnung und seine psychische Gesundheit oder was sonst taxiert werden mag. Entsprechend haben die Alten gesagt, nur ein moralischer Mensch sei ein „wertvoller” Mensch. Und noch immer gilt, daß es begabte Lumpen, intelligente Nichtsnutze und solche gibt, die glatt funktionieren, sonst aber fällt uns zu ihnen nichts ein.
Mittlerweile aber ist es verpönt, von einem „wertvollen” Menschen zu reden - es impliziert, es gäbe solche, die weniger „wert” sind. Dieses Gleichheitsgebot ist der letzte und eigentliche Grund des offenbaren Bedeutungsverlustes der Moral: Wenn alle Menschen -bei unterschiedlicher Begabung, Leistungsfähigkeit etc. - gleicher „Qualität” und gleich „wertvoll” sind, sind alle gleicher Moral. Als akzeptierte Differenz gilt dann nur noch, daß der eine seine Therapie bereits hinter sich hat, und der andere hat sie noch vor sich.
Plädoyer für die Moral
Ich wage aber die Behauptung: Eine Welt, die noch so „gut” für den Menschen eingerichtet ist, ist darum noch keine „menschliche” Welt. Im Gegenteil: Wird die „Menschlichkeit” der Verhältnisse damit erkauft, daß sie von den Menschen selber unabhängig werden, indem sie rein als „Einrichtungen” realisiert werden, steigern sie bestenfalls das Empfinden der Bequemlichkeit; das Bewußtsein, in einer „menschlichen Welt” zu leben, erhöhen sie hingegen nicht. In dieser Weise „humanisierte” Verhältnisse haben allenfalls die Aura der Perfektion für sich - menschlich ist dem Menschen nur als Mensch unter Menschen zumute. Nicht die Maschine und die Arbeitsteilung, wie oft genug behauptet wurde, „entfremdet” und „entmenschlicht” den Menschen, sondern das Verblassen der Moral. Denn verblaßt die Moral, wird der Mensch fade.
Betriebe und Unternehmen haben Gründe, sich diese - vergessene - „alteuropäische” Wahrheit erneut in Erinnerung zu rufen. Das auf der Grundlage neuester Erkenntnisse „menschlich” gestaltete und organisierte Büro ist solange toter Kram, solange in ihm nicht Menschen arbeiten und leben, die den Kollegen das Empfinden gestatten, Menschen unter Menschen zu sein. Diese Wahrnehmung aber ist daran gebunden, daß es auf die Menschen ankommt, darauf, daß sie „gut” sind - oder, wie es hieß: daß es „moralische” - horribile dictu: „wertvolle” Menschen sind. Die Frage, die sich nun stellt, ist die praktisch-philosophische Frage, wie den Menschen dazu zu verhelfen sei.
Dieser Text ist als "Der Arbeitgeber-Essay" zuerst erschienen in "Der Arbeitgeber", 43. Jg., H. 1, 1991, S. 16-20