Zur Philosophischen Praxis
Eingelassenheit - oder: Zuhören ist die Seele des Gesprächs
Deutsches Sprichwort:
Schwatzen lernt man früher als zuhören.
Und übrigens zu hören auch eher als zuzuhören. Ersteres ist eine Gabe der Natur, zweites ein Vermögen, über das nur wenige verfügen: niemand, dem es einfach zufiele, denn zuhören können ist eine Kunst. Dabei ist zuzugeben, daß zuzuhören manchmal selbst dem Begabtesten schwerfällt. Was unterstreicht: Ein guter Zuhörer zu sein ist nichts, was sich von selbst versteht.
Wenn nun einer sagte, ihm gehe es damit ganz anders, ihm falle es leicht, anderen beim Reden den Vortritt zu lassen, er dränge sich gar nicht danach, das große Wort zuführen und höre eigentlich lieber zu - dann: Vorsicht! Vielleicht ist, der da widerspricht, nur ein Phlegmatikus? Womöglich ist, was er mit der Kunst zuzuhören verwechselt, nur Mundfaulheit und Bequemlichkeit, die ihre Ruhe will. Oder kennen Sie diesen -Typus etwa nicht, der den Redefluß bloß apathisch erträgt, 'den Gesprächsduldertyp? Hin und wieder nickt er beflissen mit dem Kopf, zur Abwechslung schüttelt er ihn und sagt "So, so" und "Ist nicht wahr!" und "Ach so?", und dann wieder schaut er auf, als wollte er fragen: "Wie? Ihr seid immer noch nicht fertig?"
Nein, das sind keine Zuhörenden, das sind Dickhäuter. Und Trägheit werden wir nicht mit der Tugend des Zuhörens verwechseln.
Denn zuzuhören ist keine Passivität, sie ist äußerste Aktivität; und zwar eine, für die eigens ein neues Wort erfunden werden sollte. Vielleicht, um einen Vorschlag zu wagen: "Eingelassenheit".
Ich weiß, mein Vorschlag wird nicht Karriere machen. Neue Begriffe einzuführen ist ja auch keine Kleinigkeit. Dennoch, und nur für dieses eine Mal, will ich es mir erlauben und erläutern, warum mir dieser Ausdruck gefiele, wenn es ihn gäbe.
"Eingelassenheit": das erinnert zunächst an Gelassenheit. Also an jene hohe Tugend der weisen Griechen und klugen Römer, ohne die niemand wirklich Zuhörer ist. Nicht nur, daß sie den Hörenden anhält, den anderen "zu lassen", ihm Zeit einzuräumen und Ruhe zu gönnen, damit er ausreden kann, was er angesprochen hat; sondern Gelassenheit ist auch als die Fähigkeit nötig, zeitweilig von eigenen Wünschen, Gedanken und Vorstellungen Abstand zu nehmen, zu sich selbst auf Distanz zu gehen - jedenfalls solange wir Zuhörende sind. Zuhören heißt nämlich: "beim anderen" und zugleich "bei der Sache" zu sein, und zwar bei der, die eben jetzt "die Sache" des anderen ist.
Drängt sich hingegen allzu aufdringlich das Eigene dazwischen, wird das Zuhören zur Qual und dem Redenden das Reden ebenso. Peter Sloterdijk: "Wer nicht hören will, läßt fühlen." Und wer ist es, der nicht hören will? Dem der Kram im eigenen Kopf um jeden Preis wichtiger ist als das, was er vom anderen erfahren könnte.
Doch zurück zu meinem Kunstwort, zur "Eingelassenheit". Klingt darin nicht auch das Tätigkeitswort "einlassen" mit? Sogar in doppelter Form. Einmal nämlich transitiv als "einlassen" des anderen - wir lassen ihn zu uns herein im bildlichen Sinne, wenn wir ihm zuhören -, und dann auch reflexiv als "sich einlassen": Indem wir zuhören, lassen wir uns auf den anderen ein.
Und noch mehr! Es ist, als seien alle Assoziationen und Sinn-Evokationen willkommen, die das Wort in sich birgt. Wir lassen uns, hören wir zu, nicht nur auf einen anderen ein; im strikten Sinne läßt sich der Zuhörende auch mit jemandem ein. Wir wissen, welche grundlegende Bedeutung diesem Aspekt in der Friedensdiplomatie zukommt: Wer sich an den Verhandlungstisch setzt und den Gegner auch nur anhört, läßt sich bereits "mit ihm ein"; selbst dann, wenn es beim Anhören bleibt und zum Zuhören noch nicht reicht.
Am treffendsten aber, scheint mir, wird das, was den Namen Zuhören wirklich verdient, mit dem geläufigen Bild erläutert, das vom Zuhörenden sagt, er "leihe" dem, dem er zuhört, "sein Ohr".
Wer sich diese Metapher ansieht, als begegne sie ihm zum ersten Mal, wird finden: Ein merkwürdiges Bild! Einem anderen, der für sich selbst nicht zu sprechen weiß, "seine Stimme leihen" - das ist leicht verständlich. So spricht einer mit seinem Mund für den anderen, wird Fürsprecher.
Aber "sein Ohr leihen"? Ist es denn so, daß der, dem ich zuhöre, selber keine Ohren hat, und nun braucht er meines zum Ersatz? Doch wohl nicht. Und dennoch ist das Bild genau zu nehmen: Wenn ich mein Ohr dem anderen leihe, "gehört" es ihm, ist es - leihweise - sein Ohr. Aber: Es ist ein geliehenes Ohr, und nicht das eigene. Aus der Sicht dessen, der das Glück hat, einen Zuhörer gefunden zu haben, heißt das also: Da hört ein Ohr, als ob es mir gehörte, und es ist doch nicht mein eigenes. Es ist mir, indem es mir zuhört, zugehörig und doch nicht eins mit mir - denn andernfalls wäre es, als führte ich Selbstgespräche. Oder: Der mir zuhört, ist mir nah und "bei mir" und ist doch zugleich ein anderer, hat mir nur sein Hören geliehen.
Besser als mit diesem Bild des ausgeliehenen Ohres ist kaum auszudrücken, daß nur der zuhört, der nicht hört, was er hören will, sondern: was der andere von sich hören läßt. "Laß wieder von dir hören!" Ist es mit dieser schönen Grußformel ernst gemeint, heißt sie: "Melde dich, damit ich weiß, daß du noch lebst!" Nur die Lebenden sprechen - und hören zu.