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Beruf als Wahlschicksal [Philosophische Praxis Gerd B. Achenbach] || nach oben springen || Startseite Achenbach-PP.de

Gerd B. Achenbach

Beruf als „Wahl-Schicksal”


Gliederung:

Beruf als Schicksal?
Zur Verantwortung des Berufsberaters
Was mit der Berufswahl entschieden wird
„Wer einer ist”
Szene am kalten Büfett: Zur Frage, ob einer wird, was er ist, oder ist, was er wurde
Wie wir werden, die wir sind
Die Voraussetzungen, Neigungen, Begabungen werden bei der Suche nach dem „richtigen Beruf” überschätzt
Ein Fall-Beispiel sowie Bemerkungen zum „Begriffs-Schicksal”
Des Fall-Beispiels erste Variante: Der Beschäftigungs-Therapeut
Des Fall-Beispiels zweite Variante: Der Antiquar, Sammler, Mäzen
Was sonst noch übersehen wurde – Erstens: Die Frau
Zweitens: Psychobiographische Latenzen und Konflikt-Potentiale
Zum Auftrag der Psychologie in der Berufsberatung
Bemerkung zur Supervision
Forderung einer philosophisch orientierten Berufsberatung
Zur ethischen Orientierung am Bild des gelungenen Lebens
Anhang: Beruf als allgemeines Schicksal



Beruf als Schicksal? – Schon der Titel lädt zu Mißverständnissen ein, die rasch ausgeräumt werden müssen. Also werde ich zunächst präzisieren, was ich meine, wenn ich im Zusammenhang mit Beruf und Berufswahl vom „Schicksal” rede.
Dem Normalkonsumenten offizieller Politikparolen ist der Slogan von der „Schicksalswahl” geläufig. An was wird bei dieser Redensart gedacht? Der Politiker, der das Wahlvolk mit der Beschwörungsformel, der jetzt bevorstehende Urnengang sei eine „Schicksalswahl”, zur Wahrnehmung des Stimmrechts auffordert, behauptet damit, die anstehende Wahl-Entscheidung habe außerordentlich weitreichende Folgen.
Und außerdem wird wohl daran gedacht, daß sich den Folgen der Entscheidung, ist sie erst einmal gefallen, nicht leicht wieder entkommen lasse; denn noch einmal neu und anders zu entscheiden, sei so bald nicht mehr möglich.
Auf diese Weise wird an die simple Tatsache erinnert, daß freie Entscheidungen – vorausgesetzt, es sind bedeutsame Entscheidungen –, eine Fülle nachfolgender Unfreiheiten mit sich bringen, die man sonst auch „Konsequenzen” nennt.
Im Volksmund heißt das: Wer A sagt, muß auch B sagen. Und dabei ist keineswegs ausgeschlossen, daß „A” freiwillig gesagt wurde. Im Gegenteil. Vielmehr wird unterstellt, daß jener erste Schritt freistand, der nächste jedoch – als seine Konsequenz – gegangen werden muß.
So belehrt uns also diese durchaus kluge Allerweltsweisheit darüber, daß oftmals aus Freiwilligkeiten Zwänge folgen, die nicht mehr zur Disposition stehen, die sich vielmehr infolge der freien Entscheidung für „A” als Nötigung ergeben, jetzt auch „B” und „C” und möglicherweise sogar noch „D” zu sagen.
Und nimmt man es genauer, ist sogar zu sagen, daß eine einzige Ursache (aus Freiheit) in der Regel eine unendliche Menge von Wirkungen nach sich zieht, die als Wirkungen eben nicht mehr frei sind.
Damit dürfte in einem ersten Schritt ausreichend erläutert sein, welchen Begriff des Schicksals ich mit Beruf und Berufswahl in Verbindung bringen möchte, nämlich: Das Schicksal als Wahl- und Freiheitsfolge; und den einmal gewählten Beruf entsprechend als „Wahl-Schicksal”.
Gemeint ist also nicht, daß der Beruf wie ein Schicksal „über uns kommt” – das ist auf eine heute regelmäßig übersehene Weise übrigens auch der Fall; aber dazu komme ich erst im letzten Kapitel –, sondern gemeint ist:
Die Berufswahl ist von einem derart ausschlaggebenden, konsequenzen- und folgenreichen Gewicht, sie ist von einer derart lebensbestimmenden Bedeutung, daß sie tatsächlich den in der Politik nahezu verschlissenen Titel verdient: sie sei eine „Schicksalswahl”.


Zur Verantwortung des Berufsberaters

Für den Berufsberater bedeutet das: Sofern er tatsächlich ausschlaggebend berät, engagiert er sich in schicksals-mitbestimmender Weise. In gewissem Sinne „spielt er Schicksal”, sollte sich ein Mensch mit seiner Hilfe zu einem bestimmten Berufs- und damit Lebensweg entscheiden.
Ich denke, es genügt, auf diesen Zusammenhang hinzuweisen, um jeden Zweifel am Gewicht der Verantwortung zu tilgen, die der Berufsberater seinerseits mit seiner Berufswahl auf sich geladen hat.
Übrigens wird diese Einschätzung keineswegs relativiert dadurch, daß in den Kreisen der professionellen Berater mit schöner Bescheidenheits-Geste häufig beteuert wird, es werde nur „Hilfe zur Selbsthilfe” geleistet. Vielmehr nimmt diese (richtige) Selbstverpflichtung zur Zurückhaltung von der tatsächlich übernommenen Verantwortung nichts weg: Entweder das Amt des Berufsberaters ist nur die simple, jederzeit von Maschinen ersetzbare reine Informations-Dienstleistung – dann sind die Berater allerdings „aus dem Schneider” und sie dürfen ihre freilich überflüssigen Hände in Unschuld waschen –, oder aber die Berater sind tatsächlich, was sie sein wollen und sein sollen, weil sie als solche nötig sind und so auch von den Ratsuchenden beansprucht werden: nämlich Berufs-Berater – dann aber laden sie sich eine Verantwortung auf ihr Gewissen, die nahezu beispiellos ist.
Denn – ich wiederhole die These –: Die Berufswahl ist eine Schicksalswahl, die so zu heißen verdient, weil es kaum eine Entscheidung im Leben gibt, die folgenreicher wäre als die Wahl des Berufs. – Soweit die Behauptung als These, die näherer Erläuterung bedarf.


Was mit der Berufswahl entschieden wird

Es kommt darauf an, unserem Thema mit der richtigen Frage zu Leibe zu rücken. Und ich denke, man sollte sich auch hier nicht scheuen, die denkbar einfachste Frage zu stellen, die freilich – wie wir gleich sehen werden – eine lange und ungewohnt umfassende Antwort erforderlich macht.
Sie lautet: Für was entscheidet sich jemand, der einen bestimmten Beruf wählt?
Antwort: Eben keineswegs nur für das, was wir gewöhnlich unter Beruf verstehen.
Vielmehr trifft er – wenngleich in aller Regel ungewollt, da unüberlegt – zugleich die Entscheidung für eine buchstäblich unendliche Menge von Nebenfolgen und Begleitumständen, die sein Leben insgesamt weit mehr prägen, formen und bestimmen werden als – im engeren Sinne – der Beruf selbst.
Denken wir etwa, um zunächst nur das bekannteste Beispiel zu wählen, an die Fülle sogenannter „Berufskrankheiten”: von der eher eindeutigen Staublunge als Folgeschaden des Bergmann-Berufs bis zu den vielfältigen und eher unspezifischen „Zivilisations-Krankheiten” und noch undeutlicheren Streß-Syndromen, von denen mittlerweile selbst die Radikal-Traditionalisten unter den Medizinern die ursächliche Verknüpfung mit der jeweiligen Berufstätigkeit und ihren chronischen Begleitumständen nicht leugnen.
Aber die Berufskrankheit als mitgewählte Möglichkeit bei der Berufsentscheidung ist tatsächlich nur ein Detail aus der Fülle dessen, was ansonsten eher übersehen und nicht bedacht wird. Und außerdem ist sie im Sinne einer Risiko-Erwägung auf der Grundlage einer gewissenhaften ärztlichen Konstitutions-Analyse möglicherweise noch halbwegs ab- und einschätzbar, also als Möglichkeit vergleichsweise gut zu erwägen und jedenfalls einzukalkulieren.
Anderes, vielleicht Bedeutsameres, läßt sich als zugehörige Berufswahl-Nebenwirkung hingegen viel schwerer taxieren und vorgreifend beurteilen.
So bedeutet die Option für einen bestimmten Beruf regelmäßig zugleich die Mitwahl einer bestimmten Lebensform, eines Lebensstils und -rhythmus, eines Denktyps und eines ganzen Ensembles von Wertschätzungen, Einstellungen, Urteilsformen, Idealen und Geltungen, von Verhaltenstypen und Reaktionsmustern, die dem Angehörigen des ergriffenen Berufs nach und nach selbstverständlich werden. Ja – eine spezifische Lebensbefindlichkeit, die der alltägliche Verkehr in bestimmten Berufsmilieus zur Gewohnheit macht, wird mit gewählt.
Sogar Neigungen zur Zuversichtlichkeit einerseits oder zur Wahrnehmung von Restriktionen und Benachteiligungen andererseits und die damit verbundenen Empfindungen des Zurückgesetzt-Seins und Übersehen-Werdens werden begünstigt oder unwahrscheinlich – je nachdem.
So ist mir beispielsweise bei der Durchsicht von Verbandsnachrichten der Berufsberater ein besonderer, nahezu durchgängig mitklingender Ton aufgefallen, wie er vorzugsweise bei Menschen angetroffen wird, die sich als Schatten-Pflanzen empfinden, während sie andere sehen, die für sich die Sonnenplätze des Lebens okkupiert haben.
Doch weiter im kleinen Übersichts-Katalog, der zumindest andeuten soll, welche Fülle des zumeist unbewußt Mitgewählten die eigentliche Option für einen bestimmten Beruf und eine bestimmte Karriere relativiert, möglicherweise im besonderen Fall bestätigt, im anderen aber zweifelhaft macht, mit den entsprechenden Spätfolgen, die dann oftmals gar nicht mehr mit der ersten, freien Wahl in Verbindung gebracht und darum dann auch nicht mehr erkannt werden.


„Wer einer ist”

So ist mit der Berufswahl etwa der Erwerb eines bestimmten Reputations-Standards verbunden und damit ein qualifizierbares Ansehensniveau, das der Berufstätige später genießt oder aber vermissen wird.
Und nicht zuletzt gewinnen wir als soziale Wesen mit unserer Berufszugehörigkeit auch noch ein qualifiziertes Anerkennungsprofil, das beispielsweise Fremden oder Menschen, denen wir flüchtig begegnen, zur ersten Orientierung dient, mit wem sie es zu tun haben.
Das bedeutet, um es abstrakt zu sagen und das Aufgezählte zugleich zusammenzufassen: Der Beruf ist identitätskonstitutiv. Was heißt das? Die Identität einer Person ist die Auskunft, die wir geben, wenn wir gefragt werden, wer diese Person ist. Und welche Auskunft geben wir in aller Regel zuerst?
Was wird Ihnen denn auf einem Brunch mitgeteilt, wenn Sie sich beim Gastgeber nach dem unbekannten Herrn dort hinten am Büfett erkundigen? Doch außer seinem Namen vor allem, daß er Rechtsanwalt ist, oder Richter am Oberlandesgericht, oder Staatsanwalt, oder „der” Regisseur, der diesen oder jenen Film gedreht hat, oder Sozialarbeiter, Malermeister, Dachdecker, womöglich Bäckergeselle oder Berufsberater beim hiesigen Arbeitsamt.
Und nun sollten wir uns fragen, ob wir nicht den Eindruck haben, bereits sehr viel zu wissen, wenn man uns soviel mitgeteilt hat? Vor allem aber lohnt es sich darüber nachzudenken, was das eigentlich bedeutet...
Ich will versuchen, die Frage mit Hilfe einer kleinen, fiktiven Szene zu beantworten.


Szene am kalten Büfett: Zur Frage, ob einer wird, was er ist, oder ist, was er wurde.

Wem wäre es etwa noch nicht passiert, daß man ihm, nachdem er sich in der genannten Weise erkundigt hatte, die Auskunft gab: „Der Herr X da drüben? Der ist Versicherungs-Vertreter!”
Und wer hätte nicht schon einmal, nach dieser Aufklärung, spontan gesagt: „Das habe ich mir doch gedacht!”?
Wieso aber konnten wir uns das denken?
Etwa, weil der Versicherungs-Vertreter da hinten, der sich gerade ein mäßig hart gekochtes Ei mit Kaviar-Häuptchen auf den Partyteller tut, während er seinem Nachbarn, den er mit munter-offenem und scheinbar herzlich-altfreundschaftlichem Blick nicht aus den Augen läßt, diesen köstlichen Witz erzählt, wie einer zu seinem Arzt kommt, sagt: „Herr Doktor, stellen Sie sich vor... usw.”, und der dann, in dem Moment, wo er die Pointe landet, seinem Nachbarn die Hand auf den Arm legt, als wolle er, mit Rücksicht auf die anderen Gäste, verhindern, daß sein Bekannter allzu laut über diesen köstlichen Witz lacht --- bevor er sich ebenso rasch einem anderen Gast zuwendet und mit fassungslos erstauntem „Hallo!” und weit ausgebreiteten Armen ruft:
„Das gibt es doch gar nicht! Sie hier? Ist ja toll, sagen Sie mal! Was macht denn die Kunst? Alles palletti? Und Ihre reizende Frau Gemahlin ist auch mit von der Partie?” –
Wieso also konnten wir uns denken, daß das ein Vertreter ist? Etwa, weil er wurde, was er bereits war, bevor er es wurde: Vertreter nämlich? Oder weil er – als Vertreter – wurde, was er jetzt ist?
Zur entscheidungsreifen Alternative verkürzt: Wurde er, was er war – oder ist er, was er wurde?
Ich denke, wir verstehen mehr und genauer, wenn wir es mit der Lösung zwei versuchen. Und ich denke weiterhin, daß uns Menschenkenntnis und Erfahrung zur Anerkennung des Eindrucks nötigen:
Der einmal gewählte Beruf modelliert uns weit mehr, als wir in der Lage sind, unseren Beruf zu modeln. – Und das bedeutet (noch einmal) mit anderen Worten:
Wir sind mehr, was aus uns wurde, als daß wir wären, was wir waren. – Oder:
Wir sind mehr das Resultat unseres Schicksals als unsere Wahl – allen Selbstverwirklichungs-Programmen und Selbstbestimmungs-Ideen zum Trotz.
Und zuletzt: Als Berufsmenschen sind wir selbst da noch unser Schicksal, wo wir zunächst unsere freie Wahl gewesen sind – als wir unseren Beruf wählten nämlich.


Wie wir werden, die wir sind

Es kommt etwas weiteres hinzu, worauf ich vor allem aufmerksam machen möchte: Eben die Mächte, die uns zu dem machen, was wir schließlich sind, die uns bestimmen in dem, wie wir denken, empfinden, wie wir uns bewegen und uns geben, die uns jedenfalls mit machen – die haben wir gar nicht gewählt.
Denn so sehr sich der einzelne, der sich zu einem bestimmten Berufsweg entschließt, auch einbilden mag, er wisse, zu was er sich da entscheidet – in Wahrheit wählt er doch blind; denn das meiste, vielleicht das wichtigste, was er da mitwählt, indem er diesen und nicht einen andern Beruf ergreift, sieht er eben nicht.
Das – wie es heißt – „zeigt sich” erst, wenn er gewählt hat; und was sich dann zeigt, das ist es, was ich das Schicksal nenne: denn das wählen wir nicht, darin sind wir – infolge unserer Wahl – verstrickt.
Das „machen” wir uns nicht zu unserer Sache, sondern: was wir wurden, unser Schicksal, ist „die Sache”, die umgekehrt – sofern wir im Berufsalltag bestehen; denn der Erfolg modelt am besten... – uns macht.
Das Schicksal als Entscheidungsfolge und die Verstrickungen als Wahlresultat sind es, die sich uns einverleiben, einfügen, anverwandeln, durchfärben, zuspitzen oder abflachen, anstacheln oder matt-setzen, in dieser Hinsicht fördern, in anderer hemmen usw.
So ist es nur eine Illusion, zu glauben, man werde Lehrer. In Wahrheit gilt: Man wählt und wird dann infolge dieser Wahl zum Lehrer gemacht: im Studium bereits (in den Lehramtsfächern geht es entschieden anders zu als beispielsweise in der Mediziner-Ausbildung), später durch die Kollegen im Lehrerzimmer (der Versuch, die besondere mentale Verfassung versammelter Lehrpersonen zu beschreiben, könnte Bände füllen...), durch die entsprechenden Freundeskreise und Bekanntschaften (man vergleiche sie einmal mit den „Kreisen”, die sich zur Gartenparty beim Unternehmer XY zusammenfinden...), am wirksamsten wahrscheinlich von den Kindern, die man pflichtgemäß unterrichten soll.
Und nun noch einmal das Entscheidende: Was – vielleicht sogar besser: – wer wir dann sind, sind wir erst einmal gemachte Lehrer, das ist sehr viel mehr, als sich mit der korrekten Bezeichnung „landeshoheitlich geregelte, stundenweise, nach dem Beamtenbesoldungsgesetz entlohnte und Pensionsansprüche erwerbende Unterrichtstätigkeit” ausdrücken läßt.
Ich bilde mir zum Beispiel ein, einen Lehrer schon von ferne zu erkennen, unweigerlich jedoch und mit nur noch geringer Fehlerquote, wenn ich ihm einige Sätze lang zugehört habe. Die Identifikationswahrscheinlichkeit erreicht schließlich einen hohen Grad von Sicherheit, wenn ich außerdem ein wenig seinen Habitus, seine Gestik und seine Motorik studieren konnte.
Und ich bin überzeugt, daß diese Fähigkeit weder erstaunlich noch selten ist, denn es gehört zur durchaus unterstellbaren sozialen Kompetenz, Menschen ihrer wesentlichen Zugehörigkeit nach einschätzen zu können.
Doch nun werde ich mich von unserem Beispiel trennen und versuchen herauszustellen, was aus dieser vorgeschlagenen Beachtung der Berufswahlfolgen und aus der Einschätzung des Berufs als Wahl-Schicksal folgt.
Ich möchte mit dieser (abweichenden) Betonung dessen, was aus der Berufsentscheidung wird, eine eingeschliffene Gewohnheit und Üblichkeit in Frage stellen, die nicht zuletzt deshalb so fragwürdig ist, weil sie in aller Regel so fraglos funktioniert. – Was ist gemeint?


Die Voraussetzungen, Neigungen, Begabungen werden bei der Suche nach dem „richtigen Beruf” überschätzt

Ich meine die Orientierung der Berufsberatung an den Voraussetzungen, die der junge Mensch mitbringt, der sich für einen Beruf entscheiden möchte.
Für problematisch also halte ich die einseitige Orientierung an den erkennbaren Begabungen, wie sie sich etwa mit Hilfe spezieller Tests ermitteln oder einfacher anhand der Schulnoten vermuten lassen; an geäußerten Interessen und Vorlieben oder ausgesprochenen Neigungen für bestimmte Tätigkeiten oder Objekte.
Zum Beispiel: Eine gewisse Begeisterung für das Automobil und die erlebte Freude am Mopedfahren mag manchen bewegen, KFZ-Techniker zu werden; eine gewisse manuell-feinmotorische Geschicklichkeit und Bastlerbegabung den anderen, Zahnmedizin zu studieren.
In allen diesen Fällen wird die Plausibilität der Berufswahl jeweils von den Voraussetzungen her gedacht, die der Wählende als vermeintliche Mitgift mitbringt.
Diese Gewohnheit, die meiner Beobachtung nach ebenso bei dem die Oberhand hat, der für sich einen Beruf sucht, wie sie zur Orientierung jener dient, die ihn darin professionell beratend unterstützen möchten, diese Gewohnheit und scheinbare Selbstverständlichkeit möchte ich in Frage stellen und zumindest stark relativieren.
Ich wage nämlich die Behauptung: Wichtiger als diese Voraussetzungen, die zu beachten und als ausschlaggebend einzuschätzen sogar ein für Berufsberater einschlägiger Gesetzestext als Norm festlegt, wichtiger als die Erwägung der Voraussetzungen ist die der Folgen, denen wir nicht entgehen, indem wir einen Beruf ergreifen.
Und dann – das ist erst der nächste Schritt – ist die weitere Erwägung wichtig, in welcher Disposition der ratsuchende Mensch seinen Anlagen nach zu diesen Folgen als der Schicksalsseite und eigentlichen Wirklichkeit seines späteren Berufs steht.
Auch diese zweite These werde ich erläutern müssen, und ich will es tun, indem ich zu einem Beispiel greife, das mir geeignet scheint zu illustrieren, was gemeint ist.
Demonstrieren möchte ich damit, welche Einschränkung unsere Wahrnehmung erleidet, wenn wir im Dienste der Berufsberatung einseitig die genannten Voraussetzungen erwägen, die wir als Neigungen und Begabungen ansehen, um sie auf die Berufstätigkeit im engeren Sinne zu beziehen.


Ein Fall-Beispiel sowie Bemerkungen zum „Begriffs-Schicksal”

Nehmen wir etwa den Fall, ein junger Mensch meldet sich in der Berufsberatungsstelle, und schon bald wird vom Berufsberater erkannt, was auch der junge Mann von sich selbst bereits zu wissen glaubt: eine ausgeprägte Neigung zu sozialem Engagement und zu menschenfreundlich tätiger Hilfe, was ihm, wie er meint, einen „Sinn des Lebens” vermitteln werde.
Außerdem besitze er eine von seinem Kunstlehrer stets herausgestrichene „künstlerische Ader”; mit andern Worten: er malt gern, glaubt, „kreativ” zu sein – und am liebsten brächte er das alles unter Dach und Fach eines einzigen Berufs.
Als kurze Zwischenfrage: „Das alles?” Zwei Worte, zwei Charakteristika wie Stempeldrucke, mehr nicht – und das wäre es dann?
Was wichtiger ist: Sind diese sogenannten „Neigungen” und „Begabungen” etwas anderes als dürre, gegenwärtig eingeschliffene Beschreibungs-Modalitäten – um nicht zu sagen: „Trivialitäten” –, mit denen wir eben heute landläufig Menschen beschreiben? – Und was schlimmer ist: mit denen sie sich ganz entsprechend auch selbst klassifizieren?
„Soziales Engagement” und „Kreativität”! Ist es nicht gerade für Berufsberater ein immer wieder trauriges Erlebnis zu sehen, in welchem Maße Menschen Klischees verwenden, um mitzuteilen, wer sie sind und was sie von sich denken? Was aber ist zu erwarten, wenn wir – im Gespräch – solche abgezogenen Begriffe zur Grundlage einer Beratung ihrer Lebensaussichten machten? Muß sich das Verkehrte und Schiefe (ebensogut wäre: das „Abstrakte”) solcher Selbsteinschätzungs-Begriffe nicht irgendwann rächen?
Doch so ist es. Ein so imitiertes Taxieren der eigenen Person disponiert geradezu zum späteren Scheitern, denn: Was in den Begriffen „soziales Engagement” und „Kreativität” (unser Beispiel) nicht aufging, was mit ihnen vielmehr verdeckt und übersehen wurde, wird sich später als Fülle der Lebensmißlichkeiten Geltung verschaffen und unseren jungen Mann – wie er dann sagen wird – „frustrieren”.
Es ist übrigens dieser Zusammenhang, der Michael Schefczyk veranlaßte, entsprechend zur psychoanalytischen Wortbildung „Triebschicksal” vom „Begriffs-Schicksal” zu sprechen.
Zur Erläuterung des Gemeinten: Die Lebenswege der Menschen verlaufen danach nicht zuletzt in jenen Bahnen, die ihnen von den Begriffen gewiesen werden, die sich die Menschen von der Welt und von sich selber „machen” – in Wahrheit und in der Regel: die sie als „herrschende Begriffe” bloß adaptieren.
So ist es die begriffliche Selbstfeststellung und das Denken der Menschen von sich – oftmals eher noch ihre zeitbedingte Selbstverkennung –, von dem das lebenspraktische Leiden, wenn nicht das Scheitern der Lebenswege ausgeht und seinen Anfang nimmt.
Es dürfte sich von allein verstehen, daß zumal Berufsberater allen Grund haben, diesen Zusammenhang sensibel zu beachten. – Sehen wir am Beispiel zu, warum.
Unserem Mann droht nämlich die Gefahr, auf jene beiden ihm geläufigen Begriffe „soziales Engagement” und „Kreativität” hereinzufallen, indem sie ihn auf einen Weg bringen, der sich als Sackgasse und Elendspfad erweisen wird.


Des Fall-Beispiels erste Variante: Der Beschäftigungs-Therapeut

Unser Mann bringt also seine beiden Hauptbegabungen in einem Beruf unter ...: Nach umfangreicher, vielgliedriger Ausbildung wird er therapeutischer Mitarbeiter in einer Rehabilitations-Klinik für Alkohol-Kranke, in der er die Mal-Therapie betreut und Gruppen leitet, die zur Besserung ihres Allgemeinbefindens Tontöpfe formen, emaillieren und brennen.
Doch schon bald wird sich zeigen, daß sehr viel mehr an besonderen Dispositionen und mitgebrachtem charakterlichem Vermögen dazugehören, um auf dem Platz – auf dem er nun gelandet ist und von dem er sich einzureden versucht, es sei „seiner” –, gut und zufrieden bestehen zu können.
So muß unser Mann beispielsweise nach einiger Zeit erleben, daß er in schwere Konkurrenz-Empfindungen verstrickt wird, die ihn regelmäßig überfallen, wenn er sich als Angestellter und wohlwollend gelittener Handlanger der approbierten Ärzte vorkommt.
Was ihn darüber hinaus teils bedrückt und teils zur Raserei bringt, ist „das Gehabe der Herren”, mit dem sie jederzeit demonstrieren, das eigentliche Geschäft des Helfens und Heilens sei zweifellos in ihrer Hand. („Gesundheits-Monopolisten” nennt er sie.)
Es kommt hinzu: Unser Mann bemerkt schon bald, daß sein Wunsch zu helfen gerade in dieser Arbeit hinderlich wird, weil er eben infolge dieser Neigung schwerer als andere damit fertig wird, daß sein Engagement in der Mehrzahl der Fälle gerade nicht hilft, jedenfalls nicht in jenem sichtbar zufriedenstellenden Maße, das er sich wohl vorgestellt hatte. Er ist nämlich ein rigoroser Mensch, dem das Motto liegt: Entweder ganz oder gar nicht.
Die allmählich gewonnene Einsicht in die therapiealltagsüblich eingeschränkte Effizienz seines Tuns nun aber offen und rückhaltlos im Klinikbetrieb zum Thema zu machen, dazu fehlt ihm wiederum die Courage.
Und so versinkt auch er bald in die eigentümliche Mattigkeit und Gedämpftheit der professionellen Helfer, die so oft mit Ruhe und Gelassenheit verwechselt wird, tatsächlich aber als Schein entwickelt wird, um sich die Aura erworbener Sicherheit und Unverzichtbarkeit zu geben.
Es dürfte sich dabei übrigens um eine helferberufs-typische Fiktion handeln, die regelmäßig durch dauerhafte Kritik an den Rahmen-Institutionen, schlechten Arbeitsbedingungen und Umständen, „die einem ja die Hände fesseln”, ausgeglichen und zugleich verraten wird.
Doch gerade diese Attitüde – für viele die Bedingung, die bedrückende Arbeit seelisch durchzustehen – wird für ihn zur schwersten Belastung, da sein herausragendes Charakteristikum ist (der Analytiker würde sagen: sein „Ich-Ideal”), jederzeit jede Form gesellschaftlich eingeforderten Scheins zu verachten: Nur unter dieser Bedingung darf er glauben, mit sich selbst identisch zu sein.
Nun mag das alles noch nicht allzu schwer wiegen. Umstände, die die erhoffte Zufriedenheit am Arbeitsplatz einschränken, werden sich allemal finden und ggf. das Vermögen stärken, das Leben nicht länger träumerisch, sondern insgesamt mit „realistisch” geläuterten Augen anzusehen.
Dramatisch hingegen wird sein latentes Unglück am Arbeitsplatz dadurch, daß er seinerzeit (als er sich zu diesem Berufsweg entschloß) nicht verstanden hatte, was ihn eigentlich zur Neigung, anderen Menschen zu helfen, bestimmte.
Nehmen wir einmal an, es sei ein – obendrein lebensbiographisch aufklärbares – Bedürfnis nach liebesäquivalenter Anerkennung und Achtung gewesen, wobei er meinte, die erhoffte Liebe und Wertschätzung sei vor allem auf dem Wege heilender Zuneigung zu erwerben ... – dann wird er sich möglicherweise schon bald in seinem Berufsalltag vorkommen „wie das letzte Arschloch” – das ist sein Ausdruck! –, mit dem jeder umspringt, wie er Lust und Laune hat, und der obendrein natürlich immer der Schuldige ist und als Sündenbock herhält, wenn irgendwo irgend etwas schief gegangen ist. Ganz abgesehen davon – wie er meint –, „daß man sich kaputtmacht und einem niemand dafür dankt”.
Soweit die Fall-Variante eins, eine Unglücksvariante zweifellos und eine Karriere der Unzufriedenheit – mit einigem Anspruch angesehen: ein Mißlingen und Scheitern.
Sehen wir uns darum jetzt die Variante zwei an, eine ebenso mögliche, aber ganz andere Geschichte, in der derselbe Mensch einerseits seine tatsächlich vorhandenen ästhetischen Sensibilitäten anders nutzt, in der jedoch vor allem seine Neigung, anderen zu helfen und Anerkennung dafür zu gewinnen, eine völlig andere Betätigungs-Chance erhält.


Des Fall-Beispiels zweite Variante: Der Antiquar, Sammler, Mäzen

Nehmen wir an, eines Tages hätte unser Mann begonnen, antiquarische Kunstbände zu erwerben, später hätte er sich auf Schriften des alten Kunsthandwerks spezialisiert, und nach und nach wäre so der Grundstock für ein entsprechendes Antiquariat zusammengekommen, das er dann auch wirklich – u. a. mit Geldmitteln aus dem kleinen Vermögen seiner Frau finanziert – wenig später eröffnen konnte ... Und nun wollen wir sehen, wie sich diese Geschichte weiter entwickelt.
Die Sache mit dem kleinen Antiquariat läuft zufriedenstellend an, und schon bald wird sie zu einem für ihn selbst ganz unvorhergesehenen Erfolg – nicht zuletzt übrigens, weil seine selbst entworfenen, künstlerisch höchst anspruchsvoll und originell gestalteten Kataloge in den einschlägigen Kreisen rasch bekannt und wenig später sogar zu einem geschäftsförderlichen Gerücht werden.
Und was macht der Mann mit seinem Erfolg? Er entwickelt sich zum passionierten Sammler alter Kunsthandwerks-Utensilien. Und als er eben wieder einmal auf einem seiner „Raubzüge” ist – wie er seine hobbydienlichen Einkaufsfahrten nennt –, begegnet ihm ein vom Leben übel gebeutelter Idealist und Träumer, der sich seinerseits sein Leben lang nichts anderes ersehnte, als ein kleines Privat-Museum zu besitzen, in dem er selber den Museums-Führer spielen dürfte. Aber dafür hat der arme Kerl weder je das Geld besessen, noch die Begabung, es sich auf anständige Weise zu verschaffen.
Für diesen rührenden Menschen wird unser Mann der Mäzen, der großzügig hilft und ihm die mittlerweile zusammengetragenen Schätze zur Verfügung stellt: So ist der Grundstein zum erträumten Museum gelegt.
Ebenso aber der Grundstein für eine enge, dankbar-anhängliche Freundschaft, an der der unverhofft beschenkte Träumer – und frisch bestallte Privatmuseums-Betreiber – ein Leben lang unverbrüchlich festhalten wird.
Beiläufig – aber lebensglücksrelevant – erwirbt sich unser Mann auf diesem besonderen Wege Achtung und Respekt in jenen gesellschaftlichen Kreisen, die sich spontan um derartige Aktivitäten bilden – schließlich verbindet sich hier die Bestätigung des kulturellen Niveaus mit identitätsstärkender Exklusivität. Kurz: Man ehrt den großzügigen Geschäftsmann und bewundert sein ebenso geschmackvolles wie selbstloses Engagement.
Und ich behaupte nun: Hier ist unser Mann an seinem Platz, und nicht, wie wir womöglich zunächst annahmen, in jenem klinisch-öden, notdürftig geschmückten Maltherapie-Saal im Kellergeschoß der Rehabilitations-Klinik für Alkoholiker und andere Suchtkranke unter der Fuchtel und unter dem herablassend freundlichen Regiment der Klinik-Ärzte, von denen er meint, sie kommandierten ihn nur herum und hätten im Grunde überhaupt keine Ahnung, was mit den Patienten los ist.


Was sonst noch übersehen wurde – Erstens: Die Frau

Vor allem aber war jener zuerst ausgedachte Berufs- und Lebensweg falsch und katastrophenträchtig, weil unser Mann völlig übersehen hatte, welche Art Frauen er bevorzugt zu bewerben pflegte; denn das waren solche, die sich nur schwer ins Milieu der Helfer und Seelenanalytiker integrieren konnten und sich darum in diesen Kreisen irgendwie fremd und unzugehörig fühlen mußten.
Ganz entsprechend stellte sich heraus, daß auch die schließlich gefundene Lebensgefährtin mit dem Beruf des Mannes unversöhnt blieb: Mit einem „gehobenen Sozialarbeiter”, „Therapie-Hifi” oder „Seelen-Heini” und „Idioten für alle” – wie sie sich im Status fortgeschrittener Ehe ausdrückt – wußte sie schlechterdings nichts anfangen, außer ihn von ganzem Herzen seiner Jämmerlichkeit wegen zu verachten.
Daß ihn diese Verachtung – zumal in ihren Augen – nur noch erbärmlicher und verächtlicher machte, will ich allenfalls beiläufig erwähnen.
Auch, daß es seinem Weibe gefiel, ihn durch wortreich eingestandene Liebesausflüge mit einem der vorgesetzten Klinikärzte nachhaltig zu demütigen, bis sie schließlich eines Tages Bilanz zog und erklärte: „Der Kerl ist einfach ein hoffnungsloser Versager! Läßt sich von jedem, der ein bißchen Mumm hat, ausbeuten, und wenn ihm einer auf's kleine Patschfüßchen tritt, sagt er natürlich nicht ›Aua! Was fällt Ihnen ein?‹, sondern er macht nur sein trauriges Dackel-Gesicht. Und schon sieht er wirklich aus wie'n geschlagener Fiffi. Bei dem reicht's noch nicht mal zum Bellen, vom Beißen ganz zu schweigen.”
Nun hieße es zwar, die Freiheiten bei der fiktiven Konstruktion von Lebensgeschichten überziehen, wollte ich jetzt aus derselben Frau ein ganz anderes Wesen machen.
Immerhin jedoch dürfen wir annehmen, daß es dieser Frau – dieselben gesellschaftlichen Anerkennungsbedürfnisse unterstellt, und auch ihre Neigung, möglichst ohne kleinliche finanzielle Bedenken nach Herzenslust einzukaufen, wenn ihr danach zumute ist –, daß es also dieser Frau möglich wäre, andere und zweifellos erfreulichere Seiten ihres unbeschadet schwierigen Charakters zu entfalten, wäre sie nicht „das Puschel des Gesundheitsarbeiters”, sondern die Gattin des Antiquars und Privatmäzens, der für die tägliche Hausarbeit eine Gehilfin besoldet, gelegentlich „Leute der Gesellschaft” zum Diner lädt und sich außerdem das Hobby gönnt, einem armen Tropf und Liebhaber den Traum seines Lebens zu erfüllen ...
Schließlich sei mir noch eine Nachbemerkung zu dem vorgeführten Zusammenhang erlaubt: Wohl ist es üblich, bei der Besetzung bedeutender Stellen zu berücksichtigen, ob die ehelichen und familiären Verhältnisse des Bewerbers dessen berufliches Engagement mutmaßlich fördern und unterstützen oder erschweren und möglicherweise blockieren werden. Doch wird auch ebenso bei der Wahl des Berufs bedacht, in welchem Maße die Umstände des Berufs die Ehe mit dieser bestimmten Frau belasten, mit jener hingegen begünstigen?
Wer – wie der Verfasser – mit Eheberatungen vertraut ist, weiß einzuschätzen, daß in beachtlichem Ausmaß die beruflichen Verstrickungen und Anforderungen – sofern sie vom Ehepartner beispielsweise als unzumutbare Belastungen empfunden werden – ursächlich sein können für den Zusammenbruch ehelicher Gemeinschaften.
Grund genug, denke ich, auch auf diese „Nebenwirkungen” und üblicherweise unbedachten Wahlfolgen wenigstens hinzuweisen.


Zweitens: Psychobiographische Latenzen und Konflikt-Potentiale

Ein Beispiel, ein klein wenig genauer angesehen, demonstriert mehr als viele Beispiele, flüchtig auf eine Kette gereiht.
Darum erlaube ich mir, der ausphantasierten Geschichte noch einen speziellen Aspekt hinzuzufügen.
Ich meine jene grundsätzlich nicht unbedeutende Wirklichkeit, für die uns die Psychologie die Augen öffnen kann.
So birgt unsere Geschichte eine Komplikation in sich, die wohl nur psychologisch richtig gewürdigt werden kann, die zunächst aber leicht übersehen werden konnte und übersehen wurde. – Ich erwähne sie, weil ich annehme, daß solche oder ähnliche Geschichten einen großen Anteil von Berufsberatungen belasten und schwierig gestalten.
Der junge Mann hatte sich damals, als er sich zunächst nicht zu entschließen vermochte, welchen Berufsweg er einschlagen solle, in einem noch andauernden Konflikt mit seinem Vater befunden, den er ebenso seines Erfolges wegen bewunderte, wie er ihn der Härte seines geschäftstüchtigen Egoismus' wegen verachtete, wenn nicht sogar haßte.
Diese Konstellation begünstigte natürlich die schließlich getroffene, extreme Entscheidung, einen möglichst selbstlosen, um reichlichen Gelderwerb unbekümmerten Beruf zu ergreifen, der sich obendrein auf eben jene Seite spezialisierte, die aus der Sicht des Jungen dem Vater so ganz und gar fehlte.
So berichtet, wird jeder – sofern ihm auch nur die Grundlagen psychologischer Wahrnehmung von Lebensverläufen vertraut sind – durchaus erwarten, daß sich diese Entscheidungsmotivation auf die Dauer als Unglücksvorbereitung erweisen mußte: Ein Leben als Demonstration für den Vater zu inszenieren ist ja offenbar nur eine beschränkte Frist lang möglich und jedenfalls nur unter Aufbietung erheblicher Opfer lange fortzusetzen. Ganz abgesehen davon, daß die „oppositionelle Farbe”, die der Berufswahl auf diese Weise psychogenetisch beigemischt war, hinderlich wurde, als später in der Klinik zumal Vorgesetzte und leitende Mitarbeiter von unserem Mann in die Rolle gedrängt wurden, den Vater zu ersetzen.


Zum Auftrag der Psychologie in der Berufsberatung

Ich denke, solche Verweise sind am Platz, wenn über Beruf, Berufswahl und Berufsberatung nachgedacht wird. Denn wir sollten nicht übersehen, daß ein großer Teil der Berufsberatungen jungen Menschen offeriert wird, die möglicherweise noch in altersbedingt unaufgelösten Bindungen und ephemeren Konflikten befangen sind, die solche oder ähnliche Fehlentscheidungen jederzeit mit motivieren könnten.
Wenn das aber so ist, ist zugleich die Frage entschieden, ob eine verantwortliche Berufsberatung ohne entsprechende psychologische Vorbereitung, Schulung oder Weiterbildung möglich ist.
Die Antwort heißt: nein.
Erst recht dann, wenn der Berufsberater den sachgerechten Anspruch stellt, „Lebensberater” zu sein, ist eine gediegene psychologische Vorbildung obligatorisch.
Ich will kurz sagen, worauf es dabei ankäme: Die Kompetenz ist erforderlich, vorgetragene „Wünsche” und „Vorstellungen” ggf. als solche zu entziffern, die durch mächtige andere – nämlich unbewußte – Wünsche motiviert und unterhalten werden; durch Wünsche mithin, die von dem Ratsuchenden gar nicht artikuliert werden können – ganz einfach deshalb nicht, weil er selbst sie nicht kennt. Dann aber kann es nötig sein, sie aus indirekten Mitteilungen zu erschließen, was die Sache der speziellen psychologischen Hermeneutik ist.
Wir dürfen sicher sein, daß mancher problematische Rat gegeben wird, weil es dem Berufsberater an dieser Kompetenz fehlt.


Bemerkung zur Supervision

Doch selbst dort, wo entsprechende Sensibilitäten und Wahrnehmungsbereitschaften gefördert worden sind und ausgebildet wurden, ist darüber hinaus eine begleitende Supervision als selbstverständliche Einrichtung dringend zu fordern: Ein Beruf, der den Ausübenden notwendigerweise in hohem Maße mit unaufhebbaren Unsicherheiten und letztlich unentscheidbaren Alternativen konfrontiert, wird ohne fachkundige Reflexion im Supervisions-Gespräch für den Beratenden zur Überforderung – der nicht selten in schlechte Routine ausgewichen wird – und für die Ratsuchenden zum Risiko.
Zu bedenken ist außerdem, daß dem Berufsberater in der Mehrzahl der „Fälle” erfahrungsbestärkende oder -korrigierende Nachrichten vom Fortgang der mit-initiierten Lebensgeschichten fehlen: ein Umstand, der das Beratungsengagement zu einer Art Blindflug werden läßt, und der nur durch die differenzierenden „Rückmeldungen” in der Supervision kompensiert werden kann.


Forderung einer philosophisch orientierten Berufsberatung

Obwohl eine verantwortliche Berufsberatung nicht ohne Psychologie geleistet werden kann, gilt andererseits: Psychologie allein reicht nicht.
Gegenwärtig, da viele noch immer allzu weitreichende Erwartungen an die psychologische Aufklärung knüpfen, ist also der einschränkende Rat nötig: Man soll den psychologischen Beitrag nicht geringachten – vor allem aber nicht überschätzen.
Darum als weitere These: Ohne philosophische Orientierung gerät die Berufsberatung in die Falle einer schlimmen Alternative: Entweder sie verkommt zum humantechnischen Service-Geschäft im Dienste gesellschaftlicher Interessen, denen der einzelne subsumiert wird – Berufsberatung wäre dann von motivierenden Sprüchen begleitete Stellenvermittlung nach der Maßgabe dessen, was im Angebot ist –, oder sie will Lebens-Beraterin sein, muß dementsprechend alle restriktiven Grenzen überschreiten und macht sich dabei möglicherweise durch Dilettantismus schuldig, indem sie leisten möchte, was sie verantwortlich nicht zu leisten vermag.
Ihr Dilemma wäre also: Entweder sie wird zu eng, oder sie wird zu weit. Entweder sie ignoriert den Anspruch, mehr zu sein als Informationslieferantin, oder sie ermächtigt sich selbst, „in großem Stil” zu beraten – und droht unseriös zu werden.
Diesem Dilemma zu entgehen, gibt es nur einen Weg: Damit Berufsberatung nicht zum Informationsdienst verkümmert und nicht zum Lebensberatungsdilettantismus verkommt, ist es nötig, daß sie philosophisch wird, sich jedenfalls philosophisch orientiert – und das heißt der besten Tradition nach: daß sie sich vom Bild des gelungenen, glückenden Lebens leiten läßt.
Wer nun fragen wollte, was das denn sei? – dem ist zu antworten, daß er, indem er sich so erkundigt, eben die Frage stellt, die die Frage der Philosophie ist.
Und anzufügen wäre: Wer sich diese Frage nicht stellt und andere Menschen dennoch berät, ist wie ein blinder Führer oder wie einer, der in ausgetretenen Bahnen geht und glaubt, er sei Pfadfinder.
Die Forderung einer philosophisch orientierten Berufsberatung ergibt sich also aus der Nötigung, zwei Gefahren abzuwehren.
Erstens: Einzig eine von der Idee des gelingenden Lebens geleitete Berufsberatung kann gegen die mächtige Tendenz immunisieren, den Ratssuchenden umstandslos den gesellschaftlichen Zwecken auszuliefern, die gegenwärtig etwa den clever intelligenten, ungebunden mobilen und innerlich flexiblen vielseitig verwendbaren Gesamtarbeiter anfordern oder – je nach Bedarfsfall – den einseitig spezialisierten Fachmenschen.
Eine philosophisch orientierte Berufsberatung hielte dagegen, daß sich weder das eine noch das andere Brauchbarkeitsprofil mit dem Bild vom gelungenen Leben zur Deckung bringen läßt. Sie insistierte darauf, daß der Sinn des Lebens etwas anderes ist als seine Verwertbarkeit.
Zweitens: Nur eine an der Idee des gelingenden Lebens orientierte Berufsberatung kann der Gefahr entgegenwirken, daß der Ratsuchende dem Ehrgeiz gutmeinender Berater ausgeliefert ist, die ihre privaten Ambitionen und ungeprüften Optionen, unaufgeklärten Traumata und gepflegten Idiosynkrasien umstandslos für Heilmittel halten, die auch anderen bekömmlich seien.
Um zusammenzufassen: Eine verantwortliche Berufsberatung erfordert sicherlich in erster Linie solide berufskundliche Fachkenntnisse, um den Ratsuchenden verläßlich informieren zu können. Soll sie darüber hinaus aber auch „Lebensberatung im speziellen Fall” sein können, sind mehr erforderlich als „Kenntnisse” und „Wissen”: nämlich psychologische Sensibilität und philosophische Orientierung.


Zur ethischen Orientierung am Bild des gelungenen Lebens

Die philosophische Frage nach dem guten Leben ist überlieferterweise die Frage der Ethik. Und so will ich – an einem einzigen Beispiel – zumindest andeuten, was vom Berufsberater als ein „ethisches Problem” wahrgenommen werden könnte.
Dabei wähle ich mit Absicht ein exzentrisches Problem, um auf diese Weise zu betonen, daß nur ein Detail, eine einzige Möglichkeit aus der Fülle dessen vorgestellt wird, was als ethisch belangvoll im Rahmen der Berufsberatung zu beachten wäre.
Der geprüfte kleine Volksspruch dürfte allgemein bekannt sein, wonach Geld den Charakter verderbe.
Nun hat allerdings die durchaus richtige Einsicht in die Verführungspotenz, die von reichen Geldmitteln ausgeht, keine Bedeutung, wenn sich ein Mensch als ausgebildeter Ingenieur beim Katasteramt anstellen läßt. Dort ist er versorgt, und was er vom Gehalt erübrigen kann, reicht – nach längerem Ansparen bei der Bausparkasse – gerade zum Erwerb eines Reihenhauses, das erst kurz vor seinem Ableben und der Umwandlung in ein strittiges Erbobjekt schuldenfrei sein wird. – Soweit und in solcher Weise gelöst entsteht also kein Problem.
Doch stellen wir uns jetzt einmal abweichend vor, derselbe Ingenieur käme auf die Idee, sich selbständig zu machen und ein entsprechendes Büro zu eröffnen.
Das könnte allerdings dazu führen, daß unser Mann „richtig zu Geld kommt”, wie man heute sagt. Und dann könnten sich Probleme ergeben, die uns an die Weisheit des vorhin zitierten Volksspruchs erinnern.
Und in der Tat: Ich habe viele Menschen in der Beratung kennengelernt, von denen sich begründet sagen ließe, ihr Problem sei ihnen ihr außerordentlicher finanzieller Erfolg geworden – und der habe sie buchstäblich verdorben. Es ist nur die Beschränktheit der gegenwärtigen Einschätzungsgewohnheiten, die solche Wirklichkeiten und Verhängnisse kaum mehr wahrnehmen lassen.
Doch gerade dies wäre Auftrag und Amt einer philosophisch-ethischen Orientierung der Berufsberatung: sie hätte aus jenen Borniertheiten und Denkzwängen der Zeit zu befreien, die uns den Blick auf Bedingungen und Gefährdungen des guten Lebens versperren.
So müßte man sich wohl nicht zuletzt ein Bewußtsein der Falschheiten unserer Zeit erworben haben – in denen sich die Menschen unglücklich verheddern –, um als Berufsberater zugleich auch Lebensberater sein zu können.
Es genügt, an die vielen irgendwie „komplizierten” Fälle zu denken, von denen der Berufsberater in besonderer Weise gefordert wird. Ließen sich wohl die Schwierigkeiten, die oftmals gerade außerordentliche, besondere Menschen haben, sich im gesellschaftlich vorgeprägten Muster der Berufe einen Platz zu suchen, als generelle Not dieser Menschen lesen, sich dem Usus ihrer Zeit zu unterwerfen und einzugliedern?
Zumal solchen Menschen aber wäre nur zu helfen, sofern der Berufsberater, an den sie sich wenden, nicht selbst Agent und Kollaborateur des „Muß” und „So ist es eben” der Gegenwart wäre und sofern für ihn nicht, was gemeinhin „der Fall ist”, das letzte Wort hätte.
So könnte es etwa sein, daß einem jungen Menschen, der sich für keinen Beruf zu entscheiden vermag, der seinem inneren Sinn entspricht, die Tür zu einem sinnvollen Leben mit dem Eintritt in einen Orden aufgeht. – Ein sicherlich wiederum exzentrischer Fall, den ich erwähne, um die provokative Frage daran anzuschließen: Welcher Berufsberater wäre so weise, diese – unter dem Diktat der Modernitätsimperative nahezu völlig verschwundene Möglichkeit – überhaupt noch zu bedenken?
Um ein weiteres Mal zusammenzufassen: Was unnachläßlich zu fordern wäre, ist ein wahrhaft vielfältiger, der Tendenz nach umfassender Blick, Menschenkenntnis im genauesten Sinne des Wortes, nicht zuletzt als erfahrenes Wissen von den menschlichen Gebrechen, Verführbarkeiten, Schwächen und seltenen Möglichkeiten.
Schließlich: ein philosophisch frei gewordenes Denken, das die Kraft fand, im Zweifelsfall „unzeitgemäß” zu sein, um denen beistehen zu können, denen es unmöglich ist, sich zeitgemäß zu modeln.
Solches Wissen wird jedoch in keiner Spezialwissenschaft verwaltet. Vielmehr ist es uns einzig philosophisch tradiert; und außerdem allenfalls noch in der großen Literatur, in den bedeutenden Romanen z. B., die uns eine differenzierte Wahrnehmung gerade der verwickelten Charaktere und ihrer Schicksale lehren kann.
Doch auch dazu ist zu sagen: Wahrscheinlich gehört ein philosophisch zunächst aufgeschlossener, womöglich angeleiteter Blick dazu, um sich die Erfahrungen und Belehrungen, die sich aus solcher Literatur gewinnen lassen, wirklich aneignen zu können.
Darum gilt: Soll der Anspruch, Berufsberatung als Lebensberatung aufzufassen, wahrgemacht werden, so ist das unter Verzicht auf die Philosophie als Zeugin des gescheiterten und Anwältin des guten Lebens nicht denkbar.


Anhang: Beruf als allgemeines Schicksal

Es war vom Beruf als „Wahl-Schicksal” die Rede. Dabei stand das individuelle Schicksal im Zentrum.
Ich will jedoch nicht schließen, ohne wenigstens einige Bemerkungen zum Beruf angefügt zu haben, insofern er heute allgemeines Schicksal ist, beziehungsweise dazu wurde.
Zunächst: Was ist gemeint, wenn vom Beruf gesagt wird, er sei heute allgemeines Schicksal, bzw. dazu geworden?
Ich denke dabei an genau das, was wir normalerweise unter Schicksal verstehen: alles Gefügte, auch uns Zugefügte, für uns bloß Vorgefundene, in das wir uns zu finden haben, also das, was da ist ohne unser Zutun, gleichwohl aber Ansprüche und Zumutungen an uns stellt, uns jedenfalls etwas angeht.
Ich könnte auch sagen: Das allgemeine Schicksal ist alles, was unserer Freiheit vorausliegt.
In weitestem Sinne ist es das „Gegebene”, dem wir uns fügen, dem wir uns allerdings auch widersetzen können; dem wir zustimmen, dem wir allerdings auch widersprechen können – das uns also immerhin die Freiheit läßt, zu akzeptieren oder abzulehnen.
Meine These lautet nun: Der Beruf ist heute allgemeines Schicksal, insofern uns allen gewissermaßen „selbstverständlich” zugemutet wird, überhaupt einer Berufs- und Erwerbsarbeit nachzugehen, uns also auf dem Arbeitsmarkt anzubieten und als arbeitswillige Wesen zu verkaufen.
Sicherlich könnte eingewandt werden, diese Tatsache eigens zu erwähnen sei überflüssig und keiner eigenen Nachbemerkung wert. – Aber genau dem möchte ich widersprechen. Und ich werde begründen, warum.
Daß heute jeder – zumal auch jede – einen Beruf zu erlernen und auszuüben habe, ist nämlich keine Zumutung, die sich als objektiver Zwang rechtfertigen ließe, wie er sich beispielsweise aus dringenden Notlagen ergibt. Es läßt sich auch keineswegs sagen, es handele sich dabei um eine unabwendbare industriegesellschaftliche Nötigung.
Vielmehr wissen wir ja, daß der sogenannten Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Und wir haben nicht zuletzt die Erfahrungen vor Augen, welche Verhältnisse im real-existent-gewesenen Sozialismus geschaffen wurden, in dem es ausdrückliches Ziel war, alle zu Werktätigen zu machen: Es arbeiteten de facto entschieden mehr Menschen, als Arbeit sinnvollerweise zu verteilen war.
Nein – gegen alle Versuche, die allgemeine Berufstätigkeit als Ausdruck einer objektiv-gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Nötigung zu interpretieren, ist festzustellen, daß sie vielmehr ein Ideen-Schicksal ist, d. h. die Folge einer Vorstellung oder Doktrin, die diese Entwicklung als
„Fortschritt” aufzufassen gebietet, mithin als etwas, was so sein soll und was darum alle wollen sollen.
Buchstäblich genommen ist es eine „Zwangsidee” – also eine Idee, die sich nicht etwa gezwungenermaßen einstellt, sondern aus der Zwänge folgen.
Gesellschaftliche Zwänge aber setzen sich durch als „Normalitäts-Imperative”, d.h. als Erklärung, was „normal” ist und was „unnormal”, was mithin der „Norm” entspricht, und was nicht.
Einzig in diesem Sinne ist die allgemeine Berufsarbeit heute eine „Selbstverständlichkeit”; genauer: sie ist eine „Selbstverständlichkeit”, die gefordert wird; mit andern Worten: eine Selbstverständlichkeit, die gerade keine Selbstverständlichkeit ist oder: eine Zwangs-Vorstellung.
Nun sind Ideen, aus denen Zwänge folgen, natürlich nicht harmlos. Und das ist es, worauf ich abschließend hinweisen will.
So fällt beispielsweise der Schatten dieser Zwangs-Vorstellung heute auf die wachsende Zahl der Arbeitslosen, und zwar in Gestalt des sozialen Makels, an dem sie leiden.
Und zum Ideen-Schicksal oder zur Doktrin ist jene Vorstellung vor allem für die Frauen geworden, die sich jetzt mit derselben Zwangsläufigkeit ins Berufsleben fügen, mit der sie zuvor in die Ehe einwilligten, Kinder gebaren und den Haushalt führten.
Ich schließe an diese wenigen und sicherlich viel zu knappen Bemerkungen meine letzte These an:
Eine Berufsberatung, die von der Selbstverständlichkeit der Erwartung ausginge, jeder habe einen Beruf zu finden und auszuüben, wäre unverantwortlich. Als Agentin des allgemeinen Schicksals, zu dem der Beruf für die Menschen wurde, müßte eine solche Beratung nämlich zur einfachen Agentur der Berufsvermittlung werden.
Unausweichlich hieße der Grundsatz dann: Hauptsache überhaupt ein Beruf.
Und im Zweifelsfalle hätte die Empfehlung zu lauten, der Ratsuchende müsse schon nehmen, was sich bietet. Immerhin habe er dann eine Stelle, und darauf komme es doch schließlich an.
Von einer Freiheit der Berufswahl kann hingegen unter den gegenwärtigen Umständen, in denen die Angebote knapp sind und knapper werden, nur die Rede sein, sofern die grundsätzliche Entscheidung – Beruf ja oder nein – noch offen ist – oder: durch den besonnenen Rat in der Berufsberatung als prinzipiell offene bewußt gemacht wurde.
Wird diese Alternative hingegen vom Zwang der gegenwärtigen Normalerwartung unterdrückt, ist die angeblich freie Wahl des Berufs selbst erzwungen – d. h. sie ist eine Scheinfreiheit und eine Farce. Die meisten haben es nur noch nicht bemerkt.
Der Beruf wäre dann nicht das „Wahl-Schicksal”, das er soundso ist, sondern das Zwangsschicksal, das wir wählen müssen.
Aufgeklärte Berufsberatung im Dienst des einzelnen, der Rat sucht, hat sich davor zu hüten, zum Kollaborateur solcher Zwänge zu werden.
Das heißt: Sie hätte an eine Freiheit und Möglichkeit zu erinnern, an die zu denken die Mutlosen und Resignierten kaum mehr wagen.


(Vortrag, gehalten auf der Jahrestagung des Deutschen Verbandes der Berufsberater, 1992; auch als Broschürendruck beziehbar.
Der Text ist zuerst erschienen in "dvb-forum" 1992.
 




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