Gerd B. Achenbach
Die Grundregel Philosophischer Praxis
Vortrag, gehalten an der Universität Genf am 8. Mai 1988
Die Philosophische Praxis wird mit einer Anforderung konfrontiert, die der akademischen Philosophie fremd war: Sie hat sich auf jene Themen, Probleme und Fragestellungen einzustellen, die den anderen beschäftigen, der sich damit an den Philosophen wendet, und nicht – wie es die Gewohnheit der universitär amtierenden und lehrenden Philosophie war – aus eigenem Vorrat zu nehmen, um anderen zu präsentieren, was den Philosophen beschäftigt. – Um ein Bild zu bemühen, das jedem verständlich ist, der die Regeln des Schachspiels kennt: Der Besucher der Praxis spielt Weiß, der philosophische Praktiker Schwarz. Also nicht die Philosophie macht den Anfang, sondern zuerst kommen die Fragen zum Zuge, die der Philosophie vorgelegt werden.
Ich möchte versuchen, die weitreichende Bedeutung zu erläutern, die der Anerkennung dieser Grundregel zukommt.
1. Philosophie, die mit dem anfängt, was andere mit ihr anfangen, ist im Unterschied zu den Wissenschaften dem Anspruch nach grenzenlos. Sie ist weder eine Spezialität noch eine Disziplin im akademischen Sinn des Wortes. Und der Philosoph ist kein Fachmann. Was praktische Philosophie ist, läßt sich mithin auch nicht durch die Angabe einer besonderen „Zuständigkeit” bestimmen.
Denken wir uns einen Mann, der in schlechter Ehe lebt, deshalb verzweifelt ist und einen Ausweg aus seiner Lage sucht. Dieser Mann geht zum Rechtsanwalt und beginnt, ihm seine Sorgen vorzutragen.
Sofern sich nun der Jurist all das anhörte, was ihm sein Klient mitteilen möchte, wäre dies gewiß eine schöne menschliche Geste – als Jurist aber ist er für die Sorgen des Menschen nicht zuständig. Darum ist auch wahrscheinlich, daß er nach anständig erbrachter Geduld endlich unterbricht und seinen Mandanten fragt: „Wie ist es nun: Wollen Sie die Scheidung, oder wollen Sie sich nicht? Wenn ja, will ich Ihnen gern helfen.” In der Tat: Als Jurist ist er für diesen Ausweg zuständig – und nur für diesen Ausweg, von dem unser Mann jedoch womöglich noch gar nicht weiß, ob er diese Lösung des Problems sucht. Ob er sich aber scheiden läßt oder nicht, ist keine juristisch entscheidbare Frage.
„Sie müssen schon wissen, was sie wollen”, sagt ihm der Rechtsanwalt, „wenn ich Ihnen weiterhelfen soll.” Das Dilemma, mit dem sich unser Mann an die falsche Adresse gewandt hat, ist jedoch, daß er eben nicht weiß, was er will.
In solcher Lage, in der er so und dort, wo er lebt, nicht gut leben kann, ihn zugleich aber allerlei Bedenken daran hindern, sich aus dieser Lage zu „befreien”, wäre es nicht verwunderlich, wenn unser Mann krank darüber würde. Er leidet unter Schmerzen im Hals, die ihm das Schlucken erschweren – ein Phänomen, das häufig als Begleiter von Trennungssorgen auffällt und sich an Ängste bindet, die aus einem drohend bevorstehenden Verlust herrühren. So begibt sich der Mann zum Arzt. Und wir lassen ihn zu einem Mediziner finden, der sich – mittlerweile durchaus zeitangemessen – bereits darüber klar ist, daß viele Leiden, über die Patienten klagen, in irgendeiner Weise mit ihren Lebenslagen, Sorgen oder Ängsten zusammenhängen mögen. Und so wird sich also auch dieser Arzt, wie zuvor der Jurist, eine Weile lang die Klagen seines Patienten geduldig anhören, und er wird möglicherweise für sich bedenken, inwieweit die Krankheit des Mannes Folge und Ausdruck – medizinisch gewendet: „Symptom” – eines ungelösten Konflikts sein könnte. Als Arzt zuständig aber ist er nur, jene Folgen möglichst auszuschalten oder zu mildern. Für die Sorge jedoch, die ursächlich den Mann in die Praxis des Arztes führte, ist die Medizin nicht zuständig; diese Sorge auch nur hinlänglich zu verstehen, geschweige denn hilfreich so zu begreifen, daß die in ihr enthaltenen Lösungsmöglichkeiten praktisch zugänglich werden, ist nicht ihre Kompetenz.
Denn wie wäre medizinisch zu sagen, wie eine Ehe zu führen ist, eine verfahrene sich retten ließe oder ob es besser wäre, sie gar nicht retten zu wollen, sondern sie aufzulösen? Dabei mag es durchaus sein, daß ihm sein Arzt – vorausgesetzt es ist ein kluger Arzt – raten kann, was er tun soll, wenn er die Krankheit nicht nur äußerlich kurieren lassen, sondern in der Tat gesund werden will; so wie der Jurist ihm hätte raten können, was er unternehmen müsse, um die Scheidung durchzusetzen. Die Frage aber ist: Ist die Gesundheit der Ausweg, die der Mann aus seiner Misere, die er weder löst noch los wird, sucht? Wäre dies selbstverständlich – wie es vielen heute selbstverständlich scheint –, müßten wir sagen, ein gesundes Leben könne nicht zugleich ein falsches Leben sein. In altphilosophischer Wendung: Die Gesundheit wäre das unzweifelhaft „höchste Gut”, die verläßliche Erscheinung des guten Lebens. Doch eine solche Gleichung, soviel sie heute auch aufgemacht wird, ist nur der Ausdruck zeitfälliger Naivität.
Nun – in der Sprechstunde des Arztes ist möglicherweise die Unentschiedenheit unseres Patienten deutlich geworden, sein Zögern, dies unglückliche Verharren in seinem Unglück und die Kraftlosigkeit, seine Lähmung wie mit einem Ruck zu zerreißen –, und so empfiehlt ihm der Arzt (denn er ist ein moderner, „aufgeklärter” Mediziner und Praktiker), zur Ergänzung seiner eigenen pharmakologischen Verordnung (er verschreibt ein leichtes Sedativum), sich in Psychotherapie zu begeben: „Das wird Ihnen guttun”, sagt er ihm. „Sprechen Sie einmal alles gründlich durch, und Sie werden sehen, dann geht es bald wieder bergauf.”
Also entläßt der Arzt unseren Mann, und der begibt sich in eine Psychotherapie. Was ihn jedoch dort erwartet, ist infolge der inzwischen außerordentlichen Vielzahl psychotherapeutischer Verfahren, Schulen und Methoden kaum zufriedenstellend auszuphantasieren – man könnte sagen: dort kann ihm nun alles blühen ...
Allerdings läßt sich ein Grundproblem angeben – und zwar genau an unserem fingierten Fall –, ein Grundproblem und Mangel, dem keine Therapie – ganz gleich, um welche es sich handelte – je entkommt. Ich dies Problem mit einem eingeschobenen Zitat verständlich machen, einer Tagebuchnotiz Eugène Ionescos:
J. erzählt mir, er kenne einen ihm befreundeten Psychotherapeuten, der mit zwei schwierigen Fällen zu tun hat, mit zwei Personen, die sich nicht kennen und die ihn seit zwei oder drei Monaten täglich aufsuchen: ein Mann und eine Frau. Der Mann möchte sich scheiden lassen, kann sich aber innerlich nicht trennen, also bringt er es nicht fertig, die Scheidung einzureichen. Der Psychotherapeut versucht, ihm die Gründe seines Verhaltens zu erklären und dem armen Mann, so gut er kann, zu helfen, sich von seiner Frau zu trennen.
Die Frau, die andere Patientin, leidet unter nervösen Depressionen, weil ihr Mann sie verlassen will. Der Psychotherapeut versucht ihr zu erklären, daß sie sich, um ihren Mann zu halten, anders betragen müsse. Er versucht, ihr klarzumachen, daß sie zum größten Teil selbst daran schuld ist, wenn ihr Mann sie verlassen will.
Der kürzeste Kommentar, der sich meines Wissens an diese Tagebuchnotiz anschließen läßt, ist wiederum ein Zitat, ein Fragment nämlich aus den „Notizen” Max Horkheimer. Titel: „Psychoanalyse als Ursache ihrer Notwendigkeit”:
„Die ahnungslose Sicherheit, mit welcher der Therapeut sich zur Beseitigung des Hindernisses berufen fühlt”, schreibt Horkheimer, sei das Resultat einer mächtigen Verkennung. „Indem der Analytiker den Bruch der schmerzhaften (...) Gattenliebe in der Analyse ins Belieben des Subjekts stellt, negiert er das vom fortschreitenden Zerfall der Bürgerlichkeit bereits angefressene Tabu; in gefährlicher Sorglosigkeit, ein kleiner Nietzsche, stößt er noch, was fällt, und dem Partner den Dolch ins Herz. Heilen nennt er die Ermutigung zur zeitgemäßen Skrupellosigkeit auf jener Seite des Familienkonflikts, der er die Rechnung präsentieren kann.”
Ich möchte nun die kleine fiktive Geschichte unseres unglücklichen Menschen nicht noch weiter erzählen – was sich immerhin leicht machen ließe und durchaus reizvoll wäre: vor allem, wenn wir ihn nun auch noch beim Priester oder beim Herrn Pastor vorsprechen ließen, und wir Gelegenheit hätten, zuzusehen, was sich als die besondere Zuständigkeit des Theologen darstellt.
Doch ich muß dieser Versuchung, die zuletzt auf eine unendliche Geschichte hinausliefe, widerstehen, und kann dies um so eher, als die eingeschobene Erzählung nur demonstrieren sollte, welche Bedeutung der ersten These zukommt. Und nun will ich versuchen, das umständlich Vorgeführte kurz zu fassen: Durch ihre notwendige Spezialisierung auf eine jeweils besondere Zuständigkeit zwingen die einzelnen praktischen Wissenschaften das komplexe Problem unseres Mannes unter die Herrschaft eines Gesichtspunktes, von dem sie zugleich nicht zu sagen wüßten, ob in dieser besonderen Weise einzugreifen dem vorliegenden Problem überhaupt angemessen ist. „Ich bin für die Scheidung Ihrer Ehe zuständig.” So der Jurist. „Ich bin dafür da, daß Sie wieder gesund werden.” So der Arzt. „Wenn deine Hemmungen verstehen und bearbeiten willst, nehme ich dich in Therapie.” So der Psychotherapeut im Ton professioneller Empathie.
Und der Philosoph? Für was ist er „zuständig”? Die Antwort lautet: Der Philosoph ist nicht für „etwas” zuständig, für nichts Besonderes und Bestimmtes oder Spezielles, das er – bevor er im Einzelfall beansprucht wird – bereits als seine Kompetenz fachmännisch verwaltet, und nun wird der Fall dieser besonderen Kompetenz unterworfen –, sondern eine Zuständigkeit des Philosophen wird erst durch das vorgetragene Problem für dieses bestimmte Problem angefragt. Kurz: In diesem besonderen Fall wird er zuständig für diesen besonderen Fall. Und die erste Frage, die er sich stellen wird, lautet: Was heißt es, in diesem besonderen Falle zuständig zu sein?
Vom Fachmann – sei er nun zuständig für Scheidungen, Gesundungen, psychohygienische Stimmungsstabilisationen oder humantechnisch gesteuerte Verhaltensangleichungen an normale Verhaltenserwartungen –, vom Fachmann werden jene Fragen am vorgebrachten Fall wahrgenommen, für die er als Fachmann Antworten bereithält. – Dem Philosophen hingegen wird das Problem zu Problem, und das heißt auch, ihm wird zu allererst fraglich, nach welchen Antworten hier im Grunde gesucht wird.
Ich wiederhole, nach dieser Zusammenfassung, noch einmal die erste These: Philosophie, die mit dem anfängt, was andere mit ihr anfangen, ist im Unterschied zu den Wissenschaften dem Anspruch nach grenzenlos. Sie ist weder eine Spezialität noch eine Disziplin im akademischen Sinn des Wortes, der Philosoph mithin auch kein Fachmann. Was praktische Philosophie ist, läßt sich mithin auch nicht durch die Angabe einer besonderen „Zuständigkeit” bestimmen.
Die weitere Bedeutung der eingangs genannten Grundregel, der zufolge nicht die Philosophie den Anfang macht, sondern zuerst die Fragen zur Zuge kommen, die der Philosophie vorgelegt werden, soll sich nun aus folgender zweiter These ergeben:
2. Philosophie, die mit dem anfängt, was andere mit ihr anfangen, kann sich auf diese Regel nur einlassen, sofern sie bereits und in der Lage ist, jedes Problem als philosophisches Problem aufzunehmen und jede Frage philosophisch zu würdigen, d. h. als Frage an die Philosophie zuzulassen.
Solche Philosophie nimmt die Bestimmung des Romantikers Novalis auf:
„Die Philosophie ist eigentlich Heimweh
– Trieb, überall zu Hause zu seyn.”
Dazu aber ist erforderlich, eine durchaus auch unter einigen Philosophen anzutreffende Neigung abzulegen, überhaupt zwischen „philosophischen” und „unphilosophischen” Fragen zu unterscheiden oder einen unüberschreitbaren Graben zu ziehen, der ein vermeintlich „philosophisches” Terrain von anderen Wissenschaftsgebieten abtrennt und „Übergriffe” abwehrt.
Karl Popper, der erklärte, alle seine „philosophischen Arbeiten [hingen] mit nicht-philosophischen Problemen zusammen” und ergänzte: „Echte philosophische Probleme haben ihre Wurzeln immer in dringlichen Problemen, die in Gebieten liegen, die nicht zur Philosophie gehören”, und als Beispiele solcher „nicht zur Philosophie gehörigen” Gebiete „Politik, Soziales Zusammenleben, Religion, Kosmologie, Mathematik, Naturwissenschaft, Geschichte” anführte, kam jener Forderung bereits recht nahe, indem er als Problembewegung jene Differenz im Grunde aufhob, die er allerdings zugleich – undialektisch, er konnte nicht anders – festhielt: die Unterscheidung „philosophischer” und „nicht zur Philosophie gehöriger” Gebiete also. Die Überwindung jenes Gegensatzes, der gleichwohl zunächst als faktische, gewordene Entfremdung anzuerkennen ist, hatte sich – als guter Schüler Hegels – bereits Ludwig Feuerbach zur Aufgabe gemacht und als Grundzug einer zukünftigen Philosophie antizipiert. Ich zitiere Feuerbach, da er mit besonderer Entschiedenheit einfordert, was sich ebenso als Anforderung aus meiner zweiten These ergibt:
Der Philosoph muß das im Menschen, was nicht philosophiert, was vielmehr gegen die Philosophie ist, dem (...) Denken opponiert, (...) in den Text der Philosophie aufnehmen. Nur so wird die Philosophie zu einer universalen, gegensatzlosen, unwiderleglichen, unwiderstehlichen Macht. Die Philosophie hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Antithese, mit der Nichtphilosophie zu beginnen.
Kurzgefaßt in eigenen Worten: Philosophie ist uneingeschränktes Interesse und grenzenlose Aufmerksamkeit. So ließe sich auch die vertraut spießige Ermahnung, der Schuster möge doch bei seinen Leisten bleiben, zwar noch –in übertragenem Sinne – an Wissenschaftsvertreter adressieren –, sofern sich diese nicht längst schon aus eigenem Antrieb in der arbeitsteiligen Wissenschaftsordnung in Sicherheit gebracht und so salviert haben ...–, als Einspruch gegen die Philosophie gerichtet wäre der Spruch hingegen gänzlich sinnlos, denn: die Philosophie hat keinen Leisten, über den sie ihre Gedanken schlüge. Dort, wo Philosophie ihren Namen verdient, produziert sie keine Gedanken nach vorgefertigtem Muster, sondern bemüht sie sich um Zugänge, durch die „die Sache” als Gedanke zu uns gelangen kann. Und zum Anlaß solcher Nachdenklichkeit – und es noch einmal zu sagen – kann ihr alles werden:
„Fragen tauchen auf” – so Rüdiger Bubner –, und das pflegt unerwartet zu geschehen. Ein wohlgehüteter Kanon ewiger Themen hat dagegen das Fragliche verloren und wird zum Zierrat einer fiktiven philosophia perennis.”
Kierkegaard – um diese auf Entgrenzung gehende Intention einmal in leichtem Ton zu illustrieren –dachte über eine mögliche Philosophie des Kusses nach, fand es „übrigens merkwürdig, daß über diese Sache noch keine Schrift existiert,” und fragte: „Sollte dieser Mangel in der Literatur seinen Grund darin haben, daß die Philosophen über dergleichen nicht nachdenken, oder darin, daß sich auf dergleichen nicht verstehen?” An diese Frage schloß er dann einige „erste Winke” an, so etwa den, daß „zu einem vollständigen Kuß erforderlich ist, daß die Handelnden ein Mädchen und ein Mann sind.” Der „Männerkuß” hingegen, befand er, sei geschmacklos und habe, was schlimmer sei, einen „unangenehmen Beigeschmack”. Der mische sich allerdings auch in jegliche Kußroutine.
„Das gilt etwa von dem ehelichen Hauskuß, mit dem die Eheleute, in Ermangelung einer Serviette, sich gegenseitig den Mund abwischen, indem man sagt: Wohl bekomm's!”
Soviel als kleine Ablenkung und Abschweifung. Und damit zurück zu den ernsteren und grundsätzlicheren Fragen, die Rüdiger Bubner aufgeworfen hatte. In seinem bereits zitierten Aufsatz heißt es an anderer Stelle: „Die von Philosophie ausgebildeten Gedanken beziehen sich auf vorhandenes Wissen, das sie (...) vorfinden und dessen Rationalitätslücken sie als Sachprobleme erkennen.” – Übrigens ist mit Bubners Gedankengang ohne weiteres die Ergänzung kompatibel, die die philosophische Anstrengung nicht nur auf vorhandenes Wissen, sondern ebenso auf vorgefundenes Handeln, Entscheiden, auf Formen und Gestalten des gelebten Lebens etc. bezieht. Doch hören wir Bubner weiter: „Das Gewahrwerden von Problemen dort, wo das normale, die Alltagspraxis und die Wissenschaften tragende Wissen keine sieht, ruft die Arbeit des philosophischen Begriffs auf den Plan.” So gilt also für Bubner, „daß die Philosophie solche Probleme erfaßt, die außerhalb ihrer gar nicht als Probleme erkannt werden.”
Wie fügen sich nun aber diese Erwägungen in den Versuch, meine zweite These zu erläutern, also jene ausgesprochene Erwartung an die Bereitschaft und die Hoffnung auf das Vermögen der Philosophie, jedes Problem als philosophisches Problem aufzunehmen und jede Frage philosophisch zu würdigen, d. h. als Frage an die Philosophie zuzulassen?
Um diese Frage zu klären, werde ich mir mit einer weiteren und weitergehenden Frage gewissermaßen selbst zur Hilfe kommen: Wie ist die prinzipielle Unabgeschlossenheit und Grenzenlosigkeit des philosophischen Interesses überhaupt möglich, und wie haben wir die Betätigung dieses Interesses zu denken? Es ist damit nämlich nicht gemeint, daß etwa jegliches Problem und jegliche Frage –oder jedes vorhandene Wissen, das die Philosophie vorfindet – an sich selbst bereits philosophische Probleme, philosophische Fragen und philosophisches Wissen seien, wohl aber: daß sie ausnahmslos zu philosophischen werden können.
Bevor ich jedoch – mit meiner dritten These – diese Frage nach der Voraussetzung zu beantworten versuche, die als die Potenz der Philosophie zu verstehen ist, das ihr Begegnende in eine Metamorphose zu versetzen und so in eine Frage zu verwandeln, die jetzt den philosophischen Gedanken einlädt, sich an ihrer gründlichen Erörterung in seiner Weise zu beteiligen, möchte ich noch an einem Beispiel demonstrieren, wie sich das selbstankündigende Erscheinungsbild der Philosophie wandelt, sobald sie zur Anerkennung der Forderung gelangt, ihr Interesse nicht auf bestimmte „Gegenstände” zu beschränken. Die Erfüllung dieser Forderung aber nannte ich die Bedingung, die realisiert sein müsse, will sich die Philosophie in der Praxis auf die Befolgung der „Grundregel” einlassen, die ihr abverlangt, nicht mit sich selbst zu beginnen, sondern dem, was ihr begegnet und zugetragen wird, die Eröffnung des philosophischen Nachdenkens zu überlassen.
Als Exempel dafür nehme ich ein kleines, sehr erfolgreich gewordenes Buch des ebenso erfolgreichen Philosophen Betrand Russell, das er 1912 geschrieben und mit dem Titel versehen hat: „Probleme der Philosophie”. Der Titel bereits signalisiert ein Verständnis der Philosophie, das sich aufs schönste oder schlimmste mit dem verbreiteten Vorurteil verträgt; danach verwaltet die Philosophie –abseits vom sonstigen Wissenschaftsbetrieb –einen besonderen Vorrat esoterischer Tiefsinnigkeiten und Fundamentalprobleme, sofern sie sich nicht himmelwärts in die dünne Luft der höchsten und letzten Fragen erhebt. „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?” – um ein berühmtes Beispiel zu zitieren.
Und Russell, der uns mit den „Problemen der Philosophie” bekanntmachen will, eröffnet seinen Text in cartesianischer Manier mit einer der vier großen Hauptfragen Kants, in diesem Falle mit dem „Was kann ich wissen?”. Eine solche Frage nennt er ein „gründlich philosophisches” Problem. Nun, das ist wahr. Hören wir, wie sich diese Frage nun in der Russellschen Wendung präsentiert: „Gibt es auf der Welt”, lautet sein erster, eröffnender Satz, „eine Erkenntnis, die so unumstößlich gewiß ist, daß kein vernünftiger Mensch daran zweifeln kann?” Und dann fügt er hinzu, die Philosophie sei „nichts anderes als der Versuch, solche fundamentalen Fragen zu beantworten”.
Nun: Wäre dies wahr, dann wäre der überwiegende Teil der philosophischen Bibliotheken Makulatur, und das meiste, was uns an Philosophie überliefert wurde, könnten wir getrost einstampfen oder als Altpapier recyclen. Dennoch: Es ist nur eine geringfügige Korrektur, die Russell sich gefallen lassen müßte, damit seine Ansicht, wie mit einem Schlage, ihre Einseitigkeit und Enge verlöre. Es genügte, in seiner pathetischen Frageformel den sokratischen Impuls wahrzunehmen, der darin keineswegs ganz untergegangen, sondern sehr wohl auch in Russells Nachfrage bewahrt geblieben ist. Dieser Impuls, also die erste, die sokratische, die Initialfrage der Philosophie ist aber nicht, ob wir überhaupt je etwas unumstößlich sicher wissen können, sondern ob das, was wir so oder so zu wissen meinen, ob das, was uns – sei es alltäglich, sei es wissenschaftlich erworben – eine unumstößliche Gewißheit scheint oder uns zur Überzeugung wurde, tatsächlich allem Zweifel widersteht – oder besser, und damit sind wir bei den Interessen der Philosophischen Praxis angelangt: ob es sich nicht weiterdenken ließe, um darüber seine Härte oder dogmatische Festigkeit zu verlieren, vielleicht auch den Schleier ideologischer Verblendung.
Insofern möchte ich, alternativ zu Russells Philosophieverständnis, als nötige Philosophieeinschätzung empfehlen: Das Geschäft des Philosophen ist nicht, an einem fiktiven Punkte „Null” mit dem Denken voraussetzungslos anzufangen, sondern: weiterzudenken, wo die Kraft des Denkens lahm wurde oder sich in trügerische Sicherheiten rettete und nun auf dem Faulbett bequemer Denkgewohnheiten verkommt. Kurz: Ihr Amt ist es, die Kraft der Besinnung neu zu stimulieren, wo das Salz des Denkens lau geworden ist. Die Philosophie mag sich mit den größten, erhabensten, edelsten Fragen abgeben; tut sie dies in der Beschränkung auf ihre eigenen Kreise, die sie sich nicht stören läßt, wird sie gleichwohl provinziell.
Damit möchte ich den kleinen – äußerlich differenzierenden – Exkurs abschließen. Ein Buch, aus dem hier entwickelten Geiste heraus verfaßt, das der Arbeit Russells zur Seite gestellt werden sollte, hieße nicht „Probleme der Philosophie”, sondern: „Welche Probleme der Philosophie zugetragen werden und was aus ihnen wird, wenn Philosophie sie austrägt.” Doch damit komme ich zurück zu meiner zweiten These, die ich mit einer weiteren, dritten These zu erläutern habe. Der Erläuterung bedarf die Behauptung, nur eine Philosophie, die sich auf jede Frage und auf jedes Problem philosophisch einlassen könne, sei imstande, die „Grundregel” Philosophischer Praxis einzuhalten, die erfordert, nicht mit der Philosophie selbst anzufangen, sondern mit dem, was ihr begegnet und zugetragen wird.
Die Frage, die sich hier anschließt, lautet nun: Wie ist dies überhaupt möglich? Was ist die Voraussetzung, die der Philosophie gestattet, mit allem ins Gespräch zu kommen? Dazu die dritte These:
3. Das philosophische Denken vermag an alle Formen des Wissens, Behauptens, Meinens, an Empfindungen und Befindlichkeiten, Einstellungen und Handlungen, nicht zuletzt – prinzipiell – an jedes wissenschaftlich aufgestellte Theorem anzuschließen, da sie alle ihrerseits Manifestationen des Gedankens sind, mit Hegel geredet: in die „Phänomenologie des Geistes” gehören.
Die Wissenschaften als Beispiel genommen: In sie alle ist Denken eingegangen, dann aber ist es in ihnen geronnen, methodisch gefesselt worden und funktioniert nun, da es sich bewährt hat, als Routine, was, nebenbei bemerkt, den Erfolg der Wissenschaften ausmacht, zugleich jedoch – gegenwärtig mehr und mehr bewußt – ihre Bedrohlichkeit steigert. Was aber geschieht, wenn Philosophie auf solches wissenschaftliche Wissen trifft? Im Bilde gesprochen: Sie weckt im Wissen die schlafende Vernunft. So bringt sie Theorien zur Bewegung des Gedankens zurück, der sie sich selber verdanken, die sie allerdings, wie die Leiter, auf der sie hinaufgestiegen sind, umgestoßen haben.
Im Grunde nichts anderes geschieht auch dort, wo Philosophie in der Praxis den alltäglichsten Fragen begegnet, Problemen aus der Prosa des Lebens, Schwierigkeiten, die in vielfältigster Weise verstrickt sind in Üblichkeiten, Gewohnheiten, eintrainierte Wertschätzungen und unbemerkte – da allgemein gewordene – Denkverordnungen. In diesem Durcheinander taucht der philosophische Gedanke wie ein Neuling auf, der sich umsieht, als sie für ihn der erste Tag; der zueinander ordnet, nachvollzieht; Fragen einwirft, die am konkreten Fall Erklärungen und Theorien überprüfen; Vorgegangenes geht er noch einmal nach, um wegkundig zu werden; bis dahin ignorierte Nebenwege werden –als sei es nur aus Neugier – eingeschlagen; ungelebte Möglichkeiten werden durch gedankliche Explikation auf den halben Weg zur Wirklichkeit gebracht, begutachtet, erwogen; unsere Richtigkeiten werden derart von der Seite angeleuchtet, daß an ihnen das Moment des Irrtums aufgeht, was sie verfeinert, vervielfältigt und vorsichtiger stimmt; Selbstverständliches, indem es tatsächlich verstanden werden soll, erweist sich unversehens als noch keineswegs verstanden –was anderem, das bisher als unverständlich galt, die Chance einräumt, jedenfalls bedacht zu werden; in alledem, soviel mag dieser impressionistische Überblick demonstriert haben, bewegt sich jedenfalls der philosophische Gedanke in seinem eigenen Element, in all dem ist er zuhause oder, wie Novalis dies gewendet hatte, sucht er sein Zuhause. „Philosophie”, heißt es in einem anderen seiner Fragmente, sei „überall oder Nirgends”.
Daß sie aber überhaupt für dieses „überall” optieren kann, hat darin seinen Grund, daß noch die dümmste Meinung, die abgestandenste, trivialste Ansicht und das ärgerlichste Vorurteil im Grunde von demselben Holze stammen, auf dem ebenso der philosophische Gedanke wächst.
Also nochmals: Philosophie ist der Sache nach ein universelles Interesse. Und das heißt nicht, wie nunmehr klar sein dürfte, daß sie alles Wissen sich einverleibt hätte und alles, was gedacht, geforscht und gewußt wird, zu ihr gehörte, so, als beanspruche die Philosophie die ganze Welt des Wissens als ihr Hoheitsgebiet. Wohl aber ist sie berufen, überall Zugang zu finden, weil zuvor schon in alles Wissen, Meinen, sogar Hoffen, Glauben, Urteilen und Schätzen usw. ihr eigenstes Element eingegangen ist, das Denken, das – mit berechtigter Erweiterung – Hegel „den Geist” nannte. Wird dies anerkannt – und auch nur dann –, kann die Philosophie den Mut aufbringen, der dazu gehört, im Sinne der Grundregel Philosophischer Praxis sich auf das einzustellen, was ihr zugetragen wird. Bringt sie aber diesen Mut auf und gelingt es ihr tatsächlich, im anderen ihrer selbst sich selbst zu entdecken, d. h. den Gedanken als das bewegende, treibende Moment in allem, an den sie sich anzuschließen und den sie weiterzudenken hat, damit er – wie ein Ferment – zu seiner Wirkung gelangt, dann ist sie Philosophie, die jetzt den Namen „Philosophische Praxis” verdient.
4. Als Anhang: Vom „Wert der Philosophie”
Zwar bin ich damit an das vorläufige Ende jener Überlegungen gelangt, die ich für diesmal entwickeln wollte – wiederum eher nur andeutend als wirklich gründlich ausdenkend –, doch möchte ich so nicht schließen, sondern – in einem Anhang jedenfalls – noch kurz auf ein Kapitel in jenem Buch aufmerksam machen, den „Problemen der Philosophie” von Bertrand Russell, auf das ich bisher nur verwiesen habe, um im Gegensatz zu ihm einen Philosophie-Begriff vorzustellen, ohne den philosophisch nicht zu praktizieren sei. Dieses Kapitel nämlich, überschrieben: „Der Wert der Philosophie”, schildert im anerkennenswerten Unterschied zu den zunächst angeschlagenen Tönen, die wir als das Pathos der Fundamentalphilosophen kennen, eine so skeptisch kluge, lebendig lebenszugewandte und unprätentiöse Philosophie, wie sie sich zur Unterstützung der Bemühungen um die Philosophische Praxis kaum besser ausdenken ließe.
Ohne den Anspruch, das Kapitel vollständig zu referieren, will ich also zumindest einige besonders denkwürdige Passagen darin gewissermaßen unterstreichen, Stellen, von denen ich Ihnen einfach zu gestehen habe, daß sie mich begeistern. So bereits seine erste Abwägung, was der besondere und kennzeichnende Nutzen der Philosophie sein könne, von dem er annimmt, er unterschiede sich gründlich von dem Gewinn, den wir vor allem aus naturwissenschaftlich-technischer Forschung ziehen.
Philosophie, so seine These, habe ihr Wirksamkeit im Unterschied von den anderen Wissenschaften in „ihrem Einfluß auf das Leben derer, die sich mit ihr beschäftigen”. Ausgezeichnet: Wer philosophiert, lebt anders. Ist nur die Frage: Wie? Und was ändert sich für ihn? In welcher Weise beeinflußt Philosophie unser Leben, sofern wir philosophieren? Russell beantwortet diese Frage, die sich selbstverständlich anschließt, nicht sogleich, sondern einige Seiten später, und dort zitiere ich weiter:
Der Wert der Philosophie, sagt er, könne „nicht von irgendeinem festumrissenen Wissens(be)stand abhängen, den man durch (ein) Studium erwerben” könne, vielmehr bestehe der „Wert der Philosophie (...) im Gegenteil gerade wesentlich in der Ungewißheit, die sie mit sich bringt.”
Und weiter:
Wer niemals eine philosophische Anwandlung gehabt hat, der geht durchs Leben und ist wie in ein Gefängnis eingeschlossen: von den Vorurteilen des gesunden Menschenverstands, von den habituellen Meinungen seines Zeitalters oder seiner Nation und von den Ansichten, die ohne die Mitarbeit oder die Zustimmung der Vernunft in ihm gewachsen sind. So ein Mensch neigt dazu, die Welt bestimmt, endlich, selbstverständlich zu finden; die vertrauten Gegenstände stellen keine Fragen, und die ihm unvertrauten Möglichkeiten weist er verachtungsvoll von der Hand. Sobald wir aber anfangen zu philosophieren (...), führen selbst die alltäglichsten Dinge zu Fragen, die man nur sehr unvollständig beantworten kann. (So kann zwar) die Philosophie nicht mit Sicherheit wagen, wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heißen, aber sie kann uns viele Möglichkeiten zu bedenken geben, die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreien. Sie vermindert unsere Gewißheit darüber, was die Dinge sind, aber sie vermehrt unser Wissen darüber, was die Dinge sein könnten. Sie schlägt die etwas arrogante Gewißheit jener nieder, die sich niemals im Bereich des befreiendes Zweifels aufgehalten haben, und sie hält unsere Fähigkeiten zu erstaunen wach, indem sie uns vertraute Dinge von uns nicht vertrauten Seiten zeigt.
Philosophie, um einiges aus diesem Zitat mit eigenen Worten zu variieren, ist die Kraft – wenn nicht die Verführung –, die aus den Fesseln eines bornierten Lebens befreit; das Vademekum gegen die Dummheit des Bescheidwissens, der Stachel im faulen Fleisch bequemer Sicherheiten. Philosophie ist das Vermögen, mit Unsicherheiten besser leben zu können als mit Sicherheiten, die in Wahrheit keine sind, sondern Betrug, wie er sich im Bunde mit der Trägheit des Herzens einnistet. Bemerken Sie, daß diese Bestimmungen, die sich zwanglos aus Russells Vorstellung der Philosophie ergeben, die späte Ankunft des Sokrates bezeugen? In der Tat könnte es ja sein, daß wir erst jetzt recht begreifen, was sein Geständnis, zu wissen, daß er nichts wisse, bedeutet, daß wir erst jetzt sehen, daß wir es dabei nicht mit einer womöglich charakterlichen Sonderbarkeit des Sokrates zu tun haben, sondern daß in jenem Bekenntnis ausgesprochen ist, was unser aller Verhältnis ist.
Doch noch einmal: Wer philosophiert, lebt anders. Aber wie? Und was ändert sich? Indem Philosophie der Trieb ist, erkennen zu wollen, zu sehen, zu verstehen, was da ist, zu bemerken und zu begreifen –und darum nichts sich vormachen zu lassen, weder von anderen, noch vom Ensemble des Wirklichen, das sich präsentiert, als könne es anders nicht sein, noch – gefälliger Weise – von uns selbst, unseren Wünschen, Interessen und Gefühlsdiktaten –, indem Philosophie überwiegend dieses Interesse ist, befreit sie uns – partiell zumindest – aus dem Zusammenspiel der Mächte, die die Verblendung wirken, allen voran aus der Herrschaft unserer Egoismen, unseres allzu-menschlichen, nur-zu-eigenen, unseres einseitig subjektiven Wollens. Wer dies einmal in seiner befreienden Wirkung an sich selbst erlebt hat, der wird sich auch an die Gefühlsmischung aus Ekel und Mitleid erinnern, die ihn jetzt überfiel, wenn er andere wie Besessene nach sogenannten „Argumenten” suchen sag, mit denen sie ihre Meinung verfechten könnten ...
Also: Philosophie verändert das Leben, indem sie uns zuerst mit unserem eigenen Kopf entzweit. Und das schönste Staunen geht los, wenn es einer dahin gebracht hat, sich darüber zu wundern, was er selbst so zufällig denkt und meint und urteilt und empfindet. Woher kommt das, daß ich ausgerechnet das für richtig halte, was mir da als „mein Gedanke” selbstverständlich ist? Kurz: Es läßt sich durchaus ein Wort finden, das den Wert der Philosophie – ihre Wirkung auf unser Leben – auf den Begriff bringt. Das Wort heißt Freiheit. Dazu noch einmal Russell:
Der freie Intellekt will die Dinge sehen, wie Gott sie sehen würde, frei vom Hier und Jetzt, von Hoffnungen und Ängsten, ohne den Plunder gewohnter Meinungen und traditioneller Vorurteile, ruhig, leidenschaftslos, nur von dem einen und alle anderen ausschließenden Wunsch nach Erkenntnis beseelt, nach einer Erkenntnis, die (...) so rein kontemplativ ist, wie das für Menschen möglich ist. (...) Der Geist (aber), der sich an die Freiheit und Unparteilichkeit der philosophischen Kontemplation gewohnt hat, wird sich auch in der Welt des Fühlens und Handelns etwas von dieser Freiheit und Unparteilichkeit erhalten. Er wird seine Ziele und Wünsche als Teile eines Ganzen betrachten, und ihre Dringlichkeit wird sich vermindern, weil er sie als unendlich kleine Bruchteile einer Welt sieht, die im Ganzen von den Taten eines einzelnen Menschen unbeeinflußt bleibt.
Diese Freiheit, die Russell hier in guter Tradition mit der Kontemplation verschwistert, und das heißt auch mit der erworbenen Begabung, die Welt zu affirmieren, im Tiefsten Ja zu ihr zu sagen, drücke sich, so Russell weiter,
im Handeln als Gerechtigkeit aus, und im Fühlen als jene umfassende Liebe, die allen gelten kann und nicht nur jenen, die man für nützlich oder für bewunderungswürdig hält. So vergrößert die Kontemplation nicht nur die Gegenstände unseres Denkens, sondern auch die unseres Handelns und unserer Neigungen: sie macht uns zu Bürgern der Welt und nicht nur zu Bewohnern einer ummauerten Stadt, die mit der Welt vor ihren Toren im Kriege liegt.
Das ist es, was Russell mit seinem vielleicht stärksten Wort als Wirkung und Wert der Philosophie verspricht: sie ist die „Befreiung aus der Knechtschaft kleinlicher Hoffnungen und Ängste”.
Allenfalls das kurzgefaßte Resümee, das er daran anschließt, überbietet noch die Schärfe dieses Diktums. Philosophie, so sein Bescheid, vermindere unsere Sicherheit im Denken, bereichere aber „unsere intellektuelle Phantasie”. Das ist ein großartiges Wort: „intellektuelle Phantasie”. Es benennt das philosophische Vermögen, das dazu erfordert ist, Philosophie in Philosophischer Praxis zu bewähren.
Nur eine Philosophie, die sich nicht scheute, ihre eigenste Begabung „intellektuelle Phantasie” zu nennen, das ist u. a. das Vermögen, das Vernünftige im Einzelnen und in Konkreten wahrzunehmen, und die Fähigkeit, daran als an das in allem wirkende Moment sich anzuschließen, und das geschliffene Bewußtsein, das für das Vernünftige und Rechte Wege auskundschaftet, damit der gute Wille – trotz gegenwärtiger Verpönung ist das weiterhin der Name für die tätige Vernunft! – damit der gute Wille also nicht auf halber Strecke liegenbleibt und resigniert und traurig oder zynisch wird ... – nur die Philosophie, die es zu einem solchen Selbstverständnis bringt, ist begabt und berufen, in der Philosophischen Praxis ihre Wirklichkeit zu finden.
© Dr. Gerd B. Achenbach
Philosophische Praxis
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