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Tugenden und Laster [Philosophische Praxis Gerd B. Achenbach]

Philosophisch betrachtet ...

Gerd B. Achenbach

Aus dem Verkehr gezogen: Die Tugenden und die Laster



Von „Tugenden” redet niemand mehr. Vom Pendant, den „Lastern”, erst recht nicht. Solche Worte stehen heutzutage in Anführungszeichen da. Wie kommt’s? Sollten die „Untugenden” ausgestorben sein, so daß die Unbelehrbaren und Verstockten, die Engherzigen und Verbiesterten nicht mehr anzutreffen wären? Auch Neid oder Häme und Gehässigkeit nicht, und Mißgunst nicht und Kleinlichkeit, Trägheit, Unaufmerksamkeit, Verschlossenheit, Verständnislosigkeit, Dumpfes und Borniertes, Rohes und Brutales, Stures und Vermuffeltes - das alles gäbe es nicht mehr? Auch Arroganz, Zynismus, Aufgeblasenheit und Überheblichkeit wären mittlerweile unbekannt, so wie Schönrednerei und Hochstapelei, wie Unaufrichtigkeit, Verlogenheit, das Verdrehen der Fakten, das Schieben mit Posten, das Jonglieren mit Zahlen? Und im Persönlichen: Auch das Launische und Zickige, das Verschlagene und Hinterhältige, das Intrigante, Falschheit und Fallenstellerei, das Egoistische, Egomanie, Egozentrik -: alles Vergangenheit? Rechthaberei, übles Hinterm-Rücken-Reden, Gefühlsabstumpfung, Rücksichtslosigkeit, Lässigkeit (wo sie nicht hingehört), Säumigkeit (wo Entschluß und Handeln nötig wären), Selbstgerechtigkeit, die nicht verzeihen kann, die weder Wohlwollen noch Zutrauen noch Nachsicht kennt - das alles wäre ausgestanden? Das Mauern und Mäkeln der Übelgelaunten, das Ressentiment der Übergangenen, das mißtrauische Lauern der Zukurzgekommenen, das Gemuffel der Verhausten, die Pfennigfuchserei der Krämerseelen auf der einen Seite, auf der andern das Geprotze der Hinaufgekommenen, die Gier der Raffer, die Kälte der Bilanzenmacher, die Überheblichkeit der Spekulanten, die abzusahnen wußten, die Selbstgefälligkeit der Typen, die sich in der Sonne des Erfolges räkeln - das alles gehörte früheren, versunkenen Zeiten an? - Wirklich?
Wäre es nun aber nicht so, gäbe es mithin dies alles noch, könnte die Erinnerung daran aufs Neue für die (gleichfalls in Vergessenheit geratenen) Tugenden sprechen: für Haltungen, die uns gestatteten, „uns sehen zu lassen”; für Grundsätze, denen wir reinen Gewissens die Treue hielten; für Überzeugungen, die wir uns nicht abkaufen ließen; für die Sicherheit des eigenen, besonnenen Urteils, das sich nicht opportunistisch als Fähnchen in den Wind hängt, sondern standhält.
Es ist an der Zeit, daran zu erinnern, daß einst unter den Nachdenklichen Mut und Tapferkeit als die erste Tugend galten. Und heute sollten wir den Feigen das Feld überlassen? Den Angepaßten, den Glatten und Geschmeidigen?
Was macht das Leben erfreulich? Sind es nicht Menschen, einzelne, die eine Freude sind? Die als Vorbild, als Beispiel taugten?
Für solche Vorzüglichkeit hatten die Alten ein Wort, mit dem sie auszudrücken wußten, was sie bewunderten und schätzten: Tugend. Wir sollten das Wort reanimieren ... Wir brauchen es. Nicht zuletzt, um sagen zu können, was ein gutes, ein gelungenes, im genauen Wortsinn: ein beachtliches Leben ist. Ein Leben, auf das wir stolz sein dürften.


Erschienen in "Promotion Business" 3/2007