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Dreimal Kreativität - Aufklärung über einen modischen Begriff [Philosophische Praxis Gerd B. Achenbach] || nach oben springen || Startseite Achenbach-PP.de
Gerd B. Achenbach
Dreimal „Kreativität”
– Kleine Aufklärung über
einen scheinbar großen Begriff
Die Kreativierer
Romantik-Erbe
Anti-Konvention
Notausgang
„Zwischenworte”
Kreativität – Vorschläge und Empfehlungen
Auch wir haben heilige Kühe. Nur keine, die auf vier Beinen laufen, sondern körperlose Geister: Ideen und Leitworte nämlich. Und die gelten nicht „von Alters her”, sondern umgekehrt, gerade weil sie neu, bestenfalls das Neueste sind – was bedingt: und solange sie es sind.
Kreativität dürfte eines unter diesen kurzlebigen Begriffs-Heiligtümern sein. Und wenn ich „dreimal” Kreativität angekündigt habe, meine ich zweimal Kreativität als eine solche modische Neuerwerbung; zum einen also das Programmwort der Erzieher, Berater, Betreuer, Trainer, und zum andern die moderne Euphorie-Losung und Hoffnungsvokabel, mit der die Individualitäts-Ansprüche ihren letzten Schub erhielten.
Die Kreativierer
Was die Kreativitäts-Mode betrifft, so ist es nicht der Mühe wert, sie ausführlich zu besprechen. Das schwappt zwar noch als Flut von Büchern und Artikeln („Kreativität als Chance”, „Kreativ Tanzen – Bewegungserfahrung und Ausdruckstanz”, „Kreatives Denken”, „Kreatives Erleben”, „Kreatives Gestalten mit Salzteig”, „Kreatives Malen mit Deckfarben”, „Kreatives Technologie-Management”, „Kreativierender Unterricht”, „Mut zur Kreativität” und „Kreativität als Kribbeln im Kopf” – eine Buchtitel-Auswahl), aber erstens fluten die Gewässer mittlerweile ab – und lassen sumpfiges Gebiet zurück –, und zweitens gilt soundso: Alles Modische geht so schnell unter, wie es aufkommt.
Mein Eindruck ist, Menschen mit feinerem Gehör und sicherem Gespür für das Zeitgemäße beginnen, den Begriff zu meiden; er wirkt nicht mehr sehr frisch. Und bald wird er ganz allgemein den Reiz von Plissee-Röcken haben. Das Wort riecht inzwischen nach Provinz. Hier und da werden noch kleine Therapie-Geschäfte damit gemacht, und als „Creativity” mit zugehörigem Training läßt sich die Sache auch noch als Seminarprogramm an den Manager bringen. Aber ich bin sicher, glücklich sind selbst die anbietenden Dienstleistungsvermarkter mit dem Reizwort nicht mehr: es ist irgendwie „von gestern”. Immerhin läuft der Kreativitäts-Trip nun schon mehr als zwanzig Jahre; und das heißt: man brauchte eigentlich etwas Neues. – Man sollte sich übrigens entschließen, lancierte Verheißungsworte nur noch mit Verfallsdatum-Aufdruck auf die öffentlichen Diskussions-Tummelplätze zu schicken.
Doch lassen wir die „Kreativierer”! In Kürze wird einem aus der Branche ein unvorhersehbarer Kreativitäts-Schub widerfahren – und dann werden sie eine neue Vorzugsvokabel am Wickel haben, mit der sie dicke Kundenfische ködern.
Romantik-Erbe
Ernster zu nehmen ist hingegen („Kreativität: zweitens”), daß sich unter der Mithilfe des Kreativitätsbegriffes das Verständnis des Menschen von sich selbst dramatisch veränderte: Im letzten Modernitäts-Akt haben die Menschen die Romantik beerbt. Und ich setze hinzu: Das ist ihnen nicht bekommen. Ulrich Beck hat dafür die schöne, lakonische Formel gefunden: „Die Romantik hat gesiegt, die Therapeuten kassieren.”
Was ist mit dieser Romantik-Beerbung gemeint? Der Individualismus wird radikalisiert, Unmittelbarkeit und Spontaneität werden gefeiert, Selbstverwirklichung besetzt die Spitze aller Wünsche, die man 'Werte” nennt, das liebe Ich wird sakrosankt, und die Lebensstile werden eine Frage der Ästhetik, also des Geschmacks – vor allem aber: als „eigentlicher” Mensch gilt fortan das Genie. Und „Kreativität” wird groß geschrieben.
Vergessen wir aber nicht, daß die Romantik in diesem zweiten Aufguß zur Jedermanns-Kultur verdünnte. Denn hier liegt das Problem. Das Zugeständnis an jeden – womöglich die Erwartung –, er dürfe nach Herzenslust genial sein, läuft darauf hinaus, die meisten mindestens zu überfordern, schlimmstenfalls, sie zu blamieren. Denn „der gemeine Mann”, wie es einmal hieß, oder „die Leute”, wie es heute heißt – gemeint sind jedenfalls 99 Prozent der zurechnungsfähigen Bevölkerung –, sind durchaus im Nachmachen und Ausführen tüchtig, sofern sie gelernt haben, was ihre Sache ist; mit dem Anspruch, „kreativ” zu sein jedoch, wird von ihnen schlicht zu viel verlangt – jedenfalls, wenn mehr damit gemeint ist als die Genialität des Klecksemachens oder eigenhändiges Töpfern unter Anleitung der VHS-Töpferkursleiterin.
Darum soll es uns auch nicht wundern, wenn das letztmoderne, neo-romantische Selbstverständnis die Menschen nicht glücklicher, sondern unglücklicher machte. Eine wesentliche Bedingung glückenden Lebens ist nämlich, daß Maßstäbe in Geltung sind, denen der Mensch gerecht werden kann, und zwar nicht nur im Ausnahmefall, sondern grosso modo und alltäglich.
Anti-Konvention
Die Proklamation der Kreativität zur Primärtugend war eine Kampfansage. Das heißt, es ging nicht nur und m etwas, es ging gegen etwas. Und wenn man auch sonst gut daran tut, sich beim Versuch, einen Begriff zu verstehen, nach dessen Gegenteil umzusehen, so gilt dieser allgemeine Ratschlag erst recht bei Worten, die mit aktuellem Geklingel und bizarrer Einführungsreklame in Umlauf kamen: In aller Regel handelt es sich dabei um Kampfbegriffe und Angriffserklärungen.
So auch verrät die Ausrufung von Kreativität als neuem Menschenrecht erst richtig, was im Spiele ist, wenn wir mit bedenken, was mit dieser neuen Qualifikation disqualifiziert wurde: Es sind die „Konvention” und alles „Konventionelle”. Der Anspruch, kreativ zu sein, ist mit andern Worten Propaganda zum Ausstieg aus der Konvention.
Ein Beispiel soll das erläutern.
Was hatte ein junger Mann zu tun, der den schwierigen Weg der Brautwerbung antrat? Er mußte sich vor allem fragen, „wie man das macht”, sofern ihm die einschlägige Konvention nicht soundso bekannt war. Zu den unverzichtbaren Bestandstücken der Verhaltens-Tradition gehörten ein sauberes Hemd, geputzte Schuhe, geschnittene sowie gekämmte Haare, eine anständige Verbeugung beim Überreichen des Blumenstraußes und dann vor allem jene Wendung, die für diesen lebensfolgenreichen Fall als üblich vorgesehen war: Neben dem ausdrücklichen Bekenntnis der Liebe hatte er „um die Hand seiner Erwählten anzuhalten”. So hieß das und so machte man das. Und das Programm war korrekt und erwartungsgemäß (= konventionell) so zu absolvieren, wie es jeder tat, der dieselbe Lage zu bestehen hatte. Nicht originelles, sondern richtiges Verhalten war gefragt.
Im Zeichen der Kreativität als Zeit-Tugend sieht das alles anders aus. Heute „zählt auf dem Markt der Verführung nur, was geeignet ist, den Unterschied zu unterstreichen. Wer sich Hoffnungen machen will, einen Libidovertrag zu schließen, muß in seiner Individualität kenntlich sein”. (Bruckner/Finkielkraut). Das heißt, kreativ sein müssen: unter Beweis stellen, daß man einmalig und anders ist und Einfälle hat. Und das gilt natürlich nicht nur für die Anwerbung von Liebespartnern, sondern ebenso für die möglicherweise später fällig werdende Mitteilung der gelungenen Vertragsunterzeichnung: Wer die modernen Individualitäts-Zwänge studieren möchte, sollte Heiratsannoncen lesen. Und es gilt genauso bei der Bewerbung um eine qualifizierte Stelle, um ein weiteres Beispiel zu erwähnen. Überall lautet das Gebot: Sei unverwechselbar! Sei einmalig! Sei du selbst! Sei anders! Unterscheide dich!
Um die markante Differenz mit zwei Merkworten zu kennzeichnen, könnte ich auch sagen, die vor-letzt modernen Tugenden waren Ausführungs-Tugenden, die letztmodernen sind Einfalls-Tugenden.
Ehemals hieß es: Tue das Übliche, Konventionelle, und tue es gut. Heute heißt es: Laß dir etwas einfallen. Sei unüblich! Weiche ab!
Ich sollte das kleine Kapitel nicht abschließen, ohne rasch hinzugesetzt zu haben, daß das Verständnis der Kreativität als „Anti-Konvention” natürlich paradox ist. Ist nicht alles Modische selbst wesentlich Konvention? Dann wäre die Mode der Kreativität also eine Anti-Konventions-Konvention?
Daß dies nicht nur ein Wortspiel ist, läßt sich leicht am Beispiel der schon bemühten Heiratsannoncen vorführen. Denn selbstverständlich sind jene heute so individuell und originell aufgemachten Privat-Botschaften neuen Stils ihrerseits wiederum „konventionell”. Und was bedeutet das? Ein heilloses Durcheinander: Es bedeutet, daß eine „konventionelle” Mitteilung der Eheschließung, also die Benachrichtigung im alt-schlichten Stil, mittlerweile die Chance erhielt, den Reiz des „Unkonventionellen” für sich zu haben. (Ein kleines Exempel Alltags-Dialektik.)
Warum erwähne ich das? Weil ich für die Einsicht werben möchte, daß Kreativität als neue Idee nur zu retten ist, wenn sie alles Parolenhaften entledigt und unpolemisch genommen wird, und das heißt vor allem: wenn sie aus ihrer falschen – primär einführungsbedingten – Entgegensetzung zur Konvention befreit wird.
Notausgang
Der letzte Abschnitt bedarf einer Ergänzung. Denn die Empfehlung, Kreativität zusammen mit dem Motiv zu sehen, das sie treibt – gegen Konvention –, ist vordergründig geblieben. Die Wahrheit, wie immer, ist komplizierter und hielt sich bisher im Hintergrund.
Das Verhältnis Konvention – Kreativität wäre wohl angemessener in folgendes Licht zu rücken: Das Lob der Kreativität war nötig, sobald uns die Stärkung der Konvention abhanden kam.
Warum ist das so? Wenn nicht gewußt wird, was richtig ist – in bürgerlicher Normalsprache: „was sich gehört” –, bietet sich naheliegenderweise der Ausweg an, zu sagen: „Du mußt selbst wissen, was du tust” und „Mach was du willst”.
Ein Beispiel? – Eine Tochter „diskutiert” mit ihrer Mutter. Die Frage bohrt, was in dieser oder jener Angelegenheit zu machen sei. Und wie sieht die heute wahrscheinlichste Lösung des Problems aus, soweit es die Reaktion von Mama betrifft? Sie wird erklären: „Mein Kind, du mußt selber wissen, was du tust.” Und was ist das nun? Ausdruck von Toleranz etwa oder von Großzügigkeit oder, wie es heute gern heißt, von Verständnis? Nichts von alledem. Es ist der einfache Ausdruck des schlichten Dilemmas, daß Mamachen eben nicht weiß, „was Sache ist” – oder: was das Richtige wäre. Auch sie hat sich bereits „auf eigene Faust” durchwursteln müssen. Mit andern Worten: Auch sie war schon darauf angewiesen, daß sie sich selbst etwas einfallen ließ, denn zumindest mittlerweile gibt es niemanden mehr, der ihr überzeugend, beglaubigt, verbindlich-bündig sagen könnte, was richtig ist. –Soviel zur einführenden Illustration am Beispiel.
Zusammengefaßt: Die selbstverständliche Geltung des „allgemein Verbindlichen” – also dessen, bei dem es nur sekundär darauf ankam, daß wir es sind, die tun, was sich gehört –, diese ruhige Gewißheit, eingefügt in ein allgemein richtiges Leben zu leben, das Vertrauen ins Angemessene und Ordentliche und Rechtschaffene – das alles ist dahin, und seither wissen die Menschen nicht mehr, wonach sie sich zu richten haben, was sie tun und was sie lassen sollen, woran sie „sich halten” könnten (wie es gewöhnlich heißt). Und das ist primär ein Dilemma und Unglück, eine Not. Und die Kreativität? – ist die Tugend, die der „Geist der Zeit” aus dieser Not zu wenden wußte. Der Ausweg lautet: Seid kreativ und laßt euch selbst etwas einfallen!
Ist das die Lösung? Eigentlich und zunächst noch nicht, denn, wohin immer der „kreative” Mensch auch gerät, kommt er durch diesen Notausgang hinaus – er kommt nicht zu dem, was er vermissen mußte: nicht zum allgemein Verbindlichen, und nicht zum verständlicherweise Richtigen. Was bleibt ihm also, als einfallsreich „das Beste aus seinem Leben” zu machen? Allerdings: Was er auch daraus macht, es gilt nur mit jener Einschränkung, daß es das Beste für sein Leben ist – nur für seines. Der nächste Jeck ist anders. Also, wir dürfen erfindungsreich sein, aber, was wir auch erfinden, es gilt nur für uns; denn andernfalls hätten wir ja wieder die allgemeine Richtigkeit, die wir vermissen.
Noch einmal: Ist das die Lösung? Nein – aber immerhin bleibt so wenigstens den meisten verborgen, daß es die Lösung nicht ist. Denn sie haben zusätzlich gelernt, daß es ja nur „auf sie selber” ankomme. „Hauptsache, ich selber finde es gut!” sagen sie brav – während sie im Stillen und uneingestanden wissen, daß dies gerade nicht die Hauptsache ist. Die Hauptsache wäre, daß auch andere gut fänden, was ihnen gut scheint. Aber was sollen sie tun?
Als kleiner Anhang: Die erste Reaktion auf das Verlorene wäre eigentlich – Schmerz. Es ist schmerzlich, nicht zu wissen, was richtig ist. Aber eben diesen Schmerz erträgt der Mensch nicht, jedenfalls vermeidet er ihn, sofern es ihm möglich ist. Und wie? Indem er bekämpft, was er nicht haben kann – indem er Konventionen „abschafft”! – indem er sich aus Konventionen „befreit”... Doch täuschen wir uns nicht: Das sind Scheingefechte! Es gibt da nichts zu bekämpfen und nichts, aus dem wir uns befreien könnten! Wir boxen nur Schatten.
So wird Kreativität gepriesen, sobald die Menschen nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht und niemandem die Autorität zukommt, ihnen denselben zurechtzusetzen. Dann bleibt nichts anderes, als seinen eigenen Kopf zu haben – was nicht mit dem großen Aufklärungswort des Königsbergers zu verwechseln ist, wonach jeder von seinem eigenen Verstande Gebrauch machen solle: da hieß das Eigene „Verstand”, was mit dem „Allgemeinen” identisch und nicht „kreativ” ist...
Und was bleibt? Was ist möglich? Zur Zeit jedenfalls keine bombastischen, großen Lösungen, sondern – in der Not – kleine, behutsame Schritte und der Versuch, zumindest nicht mit Pauken und Trompeten in die Sackgasse zu laufen. Es bleibt die Möglichkeit der Erinnerung an kleine Richtigkeiten, womöglich Banalitäten. – Wer sich verirrt hat, und wem es nicht genügt, zu pfeifen, um sich Mut zu machen, muß auf kleine und unscheinbare Dinge achten, die ihm möglicherweise gestatten, sich zurechtzufinden. Die großen Hinweisschilder fehlen – sonst hätte er sich nicht verirrt.
Darum also will ich zuletzt, bevor ich zu „Kreativität drittens” komme, an einige Kleinigkeiten, Banalitäten, Triviales erinnern, an kleine Richtigkeiten, die bestenfalls als „Zwischenworte” taugen.
„Zwischenworte”
Von Zeit zu Zeit ist es gut, an einige Banalitäten zu erinnern. Sie geraten allzu leicht in Vergessenheit. – Ich nenne hier solche in kleiner Auswahl, ohne deren Verdrängung die Feier der Kreativität als Euphorie-Losung wohl nur gebremst und eingeschränkt zum Zuge gekommen wäre. Ihre Erinnerung hat also die Bedeutung, die Idee zu mäßigen – ein Vorhaben, das ihre praktische Brauchbarkeit erhöht.
Einige Trivialitäten also als Zwischenworte: Die feindliche Stellung im Sturm zu erobern, erfordert mehr Kraft und Einsatz, als den Angriff des Feindes abzuwehren (ein Bild und Beispiel, von dem mancher hoffte, es sei endlich unbrauchbar geworden). Erläuternder Zusatz: Kreativitätsanliegen ähneln gewöhnlich der Eroberung fremden Terrains. Konventionsnahes Verhalten hingegen agiert von eingerichteten, bekannten Verhältnissen aus.
Oder diese: In aller Regel kommen wir auf angelegten Wegen weiter als auf solchen, die wir uns selbst erst bahnen müßten. Nicht zuletzt geht es auf fertiger Straße bequemer voran – was selbst dann stimmt, wenn einige von Lebenserleichterungs-Maximen dieser Art nichts halten.
Oder: Die überwiegende Mehrzahl der Mutationen – fast alle –, von einer Laune der Natur hervorgebracht beziehungsweise zugelassen, taugen nichts und gehen unter. „Neuigkeiten” und „Einfälle” verdienen darum klugerweise eine eher skeptische Begrüßung. Zusatz: Das Originelle spielt im Reich des Geistes die Rolle, die in der Natur den Mutationen zukommt.
Entsprechend: Was alt geworden ist, hat jedenfalls die Dauer seiner Existenz als Bewährungsprobe hinter sich; vom Neuen wissen wir nicht einmal, ob es im Licht des nächsten Tages noch bestehen wird.
Ergo: Mißtrauen wir unseren Einfällen!
Vor allem aber: Viele Dinge gedeihen nur, solange sie sich nicht von ihrem Gegensatz emanzipieren. Einseitig, von ihrem Widerspruch befreit, verlieren sie Kontur, werden blaß, am Ende langweilig. Das ist das Los der Kreativität, wie sie gegenwärtig ausgerufen wird: Von ihrem Gegenteil, der Konvention, befreit, läuft sie leer, wird sie unscharf, verliert sie endlich allen Inhalt.
Kreativität – Vorschläge und Empfehlungen
Darum empfehle ich: Spannen Sie Kreativität mit Konvention zusammen, binden Sie das eine an das andere, und Sie werden sehen, wie sich beide wechselseitig animieren, stimulieren, formen und Gehalt gewinnen. Übrigens haben Sie jederzeit die Chance, diese Empfehlung selbst zu überprüfen. Eine kleine praktische Übung, mehr ist dazu nicht nötig. Und zwar diese:
Setzen Sie sich hin, und versuchen Sie, fünfzig (!) Postkarten an Ihre Tante zu schreiben! Die Vorgabe ist lediglich, daß alle Ihre Kurztexte im Din-A-6-Format den Auftrag zu erfüllen haben, für die lieben Wünsche der Tante zu Ihrem Geburtstag zu danken. Wer dieses Experiment wagt, trainiert seine kreative Begabung und testet sie zugleich. Notabene: Es könnte Ihnen im Verlaufe dieses Experimentes passieren, daß Sie im besten Sinne nachdenklich werden; was nicht schädlich ist.
Warum diese Übung? Ihr liegt die Vermutung zugrunde, daß der „kreative Typ”, der stets „ganz von vorne” und „ganz neu” beginnen muß, der das weiße Blatt braucht, um sich auszuleben, der Vorgaben verabscheut und nichts gebrauchen kann, als das, was von allem Anfang an „aus ihm selbst” kommt, nur seine Einfallslosigkeit verbirgt.
Kreativ in einem Anerkennung verdienenden Sinne ist nicht der, der in einem Gespräch von einem Gedanken zum anderen fliegt – je nachdem, was ihm gerade einfällt –, sondern der in der Lage ist, einen Gedanken festzuhalten und ihn dabei weiterzuentwickeln, neu zu beleuchten und zu vertiefen, in seinen Konsequenzen darzustellen. Kurz: Kreativ ist der, der nicht „ex nihilo” produzieren muß, um sich frei zu fühlen, sondern der imstande ist, anzuknüpfen. Der eine hat zufällige Einfälle, der andere nimmt den Zufall, wie er kommt, fängt ihn auf und eignet ihn sich an, verwandelt so den Zufall in das Zugefallene. Das Modell und Muster kluger Kreativität: Thema con variationi!
Darf ich noch ein Beispiel anfügen? Wen halten Sie für kreativ? Jenen, der einkaufen muß, als sei in der Küche nichts vorhanden, um seine „ganze Phantasie” beim Kochen verwirklichen zu können? Oder jenen, der es versteht, mit dem, was da ist, ein schmackhaftes und appetitliches Gericht zuzubereiten?
Die falsche Formel „Kreativität statt Konvention” hatte eine bedenkliche Überbewertung der Aktivitäten zur Folge. Das Motto der Kreativen ist: Etwas tun! Etwas machen! „Entdecken Sie Ihre Kreativität! Schreiben Sie! Verfassen Sie Gedichte! Malen Sie! Sie können es!”
Ich schlage Ihnen im Gegensatz dazu vor, Kreativität im vermeintlich passiven Geschäft zu entdecken: Haben Sie schon einmal versucht, ein drei- oder vierzeiliges Gedicht immer wieder neu und anders zu lesen? An ihm immer wieder andere, bisher übersehene Seiten wahrzunehmen? Also dasselbe vervielfältigend aufzunehmen? Oder eine Beethoven-Sinfonie zum hundertsten Male zu hören, und zwar anders als beim neunundneunzigsten Male und alle Male davor?
Allen diesen Vorschlägen ist eines gemeinsam: Kreativität, damit sie mehr ist als ein Abzischen von Einfällen, die so schnell ausbrennen wie die Feuerwerksraketen, bedarf eines Gegenhalts und Gegensatzes, des Vorgefundenen und übernommenen, an das anzuknüpfen ist. So eignet sie sich einen Inhalt an. Und so findet sie ein Maß und Korrektiv.
Was hingegen (scheinbar) voraussetzungs- und bedingungslos begonnen wird, auf leerem Blatt gewissermaßen, der Einfall pur, das Hingestellte ohne Konsequenz und Folge, ist bestenfalls ganz nett.
Wahrscheinlich ist es ratsam, ein griffiges Wort an den Schluß zu stellen? Ich will es versuchen.
Damit Kreativität mehr ist, als Banausentum und fröhlicher Dilettantismus, denen ein gutes Gewissen gemacht wurde, kommt es darauf an, daß sie „zur Sache kommt”.
Schließlich: Wir haben Kreativität nicht als neue Konvention nötig, sondern zu deren Erneuerung. Soviel Kreativität modisch ist, ist sie das Neue, das veraltet. Kreativität hingegen, die nicht veraltet, weil sie nötig ist, erneuert das Alte.
Zuerst erschienen in: texten + schreiben, 2/1992, S. 22 – 25
Der Text ist auch als Broschürendruck erhältlich. Siehe hier.
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